Interview mit Dr. Kristina Schütz: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

Interview mit Dr. Kristina Schütz: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

“DiGA können dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie in den therapeutischen Prozess integriert sind und der Therapeut:in den Verlauf und die Wirkung der Anwendung kontrolliert.”

Dr. Kristina Schütz

Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.

Heute spricht Dr. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) und Dr. Şevket Turgut (AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG) mit Dr. Kristina Schütz über das Thema “Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)”

Dr. Kristina Schütz ist Psychologische Psychotherapeutin und seit 2012 in
eigener Praxis im Landkreis Helmstedt niedergelassen. Seit 2011 ist sie Mitglied der Kammerversammlung der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen und seit 2021 Beisitzerin im Vorstand. Vor ihrer Tätigkeit im Vorstand war sie Vorsitzende der Ausschüsse Berufsordnung & Berufsethik und Aus- Fort- & Weiterbildung sowie Mitglied des Ausschusses für Finanz- & Beitragsangelegenheiten der Kammer. Zudem ist sie stellvertretende Landesvorsitzende der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV). Durch Ihre langjährige berufspolitische
Arbeit verfügt sie über umfangreiche Erfahrungen im Gesundheitswesen.

Von 2002 bis 2007 war Frau Dr. Kristina Schütz wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Braunschweig und begann 2004 Beginn ihre psychotherapeutische Ausbildung. Im Anschluss war sie in der Ambulanz und Suchthilfe (2009 bis 2011) tätig. Von 2011 bis 2012 übernahm sie die stellvertretende Leitung der Psychotherapieambulanz der TU Braunschweig. 

Welche Erwartungen haben Sie als Psychotherapeutenkammer an digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)?

Dr. Kristina Schütz:

Als Psychotherapeutenkammer sehen wir digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) eher kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend. Sie können als Ergänzung zur persönlichen Psychotherapie dienen, stellen jedoch keinen Ersatz für die face-to-face-Therapie dar. Wir erwarten, dass DiGA sorgfältig geprüft und evidenzbasiert sind, insbesondere da sie oft nur vorläufig zugelassen werden, bevor Langzeitstudien vorliegen. Dieses Verfahren, bei dem DiGAs zunächst auf Probe gelistet werden, stellt ein Novum dar, das wir kritisch hinterfragen, da es bei anderen Medizinprodukten deutlich strengere Kontrollen gibt. Zudem ist zu betonen, dass die persönliche Betreuung durch einen Psychotherapeuten der „Goldstandard“ bleibt und dass die Erwartungen an DiGA, insbesondere in Bezug auf ihre Fähigkeit, Therapieplätze zu ersetzen oder Wartelisten zu überbrücken, realistisch bleiben müssen.

Was läuft aus Ihrer Sicht gut und was ist verbesserungswürdig?

Dr. Kristina Schütz:

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass DiGA das Bewusstsein für psychische Erkrankungen in der Öffentlichkeit steigern und einen niedrigschwelligen Zugang zu Behandlungen bieten können. Sie können eine sinnvolle Ergänzung zur Therapie sein, insbesondere wenn sie in Kombination mit persönlicher Betreuung eingesetzt werden (sogenannte Blended-Care-Ansätze) und eine geeignete Indikation wie beispielsweise Schlafstörungen vorliegt. Die TONI-Studie (Hinweis: TONI – One for all? Participatory development of a transtheoretic and transdiagnostic online intervention for blended care (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2214782924000162)) zeigt beispielsweise, dass die Kombination aus persönlicher Therapie und online Intervention in verschiedenen Therapieverfahren nutzbar ist und gut angenommen wird. Wir erkennen an, dass DiGA für bestimmte Patientengruppen, insbesondere für antriebsstarke und weniger stark belastete Patienten:innen, durchaus hilfreich sein können. Einige Patienten:innen nutzen die Anwendungen sehr konsequent und berichten von positiven Effekten, insbesondere wenn die DiGA in den Therapieprozess eingebettet sind. Dies sind alles Punkte, die gut sind.

Die hohe Abbruchquote bei unbegleiteter Nutzung von DiGA sind aus unserer Sicht ein großes Problem und kritikwürdig. Viele Patienten:innen starten die Anwendungen erst gar nicht oder brechen sie frühzeitig ab, insbesondere wenn sie keine persönliche Unterstützung erhalten. Dies führt dazu, dass die erhofften Therapieerfolge ausbleiben und die Investitionen in die DiGA oft „ins Leere laufen“. Es können auch unerwünschte Wirkungen auftreten, die dann nicht aufgefangen werden können. Wir äußern zudem Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit, da die Daten der Patienten:innen über öffentliche Plattformen gespeichert und weitergegeben werden. Kritisch sind auch die vorläufigen Zulassungen von DiGA zu sehen, die oft ohne ausreichende Langzeitstudien erteilt werden. Dies führt zu Unsicherheiten hinsichtlich der langfristigen Wirksamkeit und Sicherheit der Anwendungen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die hohe Erwartungshaltung, die an DiGA gestellt wird, insbesondere die Annahme, dass sie Wartelisten überbrücken oder Therapien ersetzen könnten. Wir betonen, dass dies nicht der Fall ist und dass unbegleitete DiGA sogar Risiken bergen können, insbesondere bei Patienten:innen mit schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen oder Traumafolgestörungen. Bezüglich der Verordnungspraxis zeigen aktuelle Daten, dass nur etwa 12% der niedergelassenen Ärzte:innen und Psychotherapeuten:innen bisher DiGA verordnet haben. Die Zurückhaltung ist groß, und die Verordnungszahlen bleiben hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück.

Wie könnte die Psychotherapeutenkammer zur Akzeptanz
und dem Einsatz beitragen?

Dr. Kristina Schütz:

Als Psychotherapeutenkammer dürfen wir keine Werbung für spezifische Medizinprodukte wie DiGA machen, da wir eine Körperschaft öffentlichen Rechts sind. Stattdessen informieren wir unsere Mitglieder über die Vor- und Nachteile von DiGA und betonen die Bedeutung einer begleiteten Nutzung. Wir setzen uns für eine kritische Reflexion des Einsatzes von DiGA ein und fordern mehr Aufklärung für Patienten:innen und Therapeuten:innen. Kammern und Verbände informieren hierzu ihre Mitglieder, um sie auf dem neuesten Stand zu halten und eine berufsrechtliche Orientierung zu bieten.

DiGA können dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie in den therapeutischen Prozess integriert sind und der Therapeut:in den Verlauf und die Wirkung der Anwendung kontrolliert. Eine unbegleitete Nutzung, insbesondere als Überbrückung von Wartelisten, lehnen wir ab, da dies zu hohen Abbruchquoten und potenziellen Risiken für die Patienten führen kann.

Wo sehen Sie die Hürden bei den DiGA?

Dr. Kristina Schütz:

Da fallen mir einige Hürden ein:

          Datenschutz: Die Speicherung und Weitergabe sensibler Gesundheitsdaten über öffentliche App-Stores ist ein großes Risiko. Patienten:innen sind sich oft nicht bewusst, wie viele Daten sie preisgeben und wie sensibel diese Daten sind. Wir fordern eine bessere Aufklärung über die Risiken der Datenspeicherung und -weitergabe.

•          Abbruchquote: Viele Patienten:innen brechen die Nutzung von DiGA frühzeitig ab, insbesondere wenn sie nicht begleitet werden. Dies führt dazu, dass die erhofften Therapieerfolge ausbleiben und die Investitionen in die DiGA oft „ins Leere laufen“. Zudem gibt es nach unserem Eindruck besonders bei jungen Patienten:innen häufig eine kritische Haltung, so dass diese trotz Digitalisierung die Präsenztherapie bevorzugen, und ihre Medienzeit eher kritisch oder als Problem sehen.

•          Qualität und Zulassung: Die vorläufige Zulassung von DiGA ohne ausreichende Langzeitstudien sehen wir kritisch. Wir fordern eine sorgfältigere Prüfung der Anwendungen, bevor sie auf den Markt kommen.

•          Indikationen: Für bestimmte psychische Störungen wie Zwangsstörungen oder Traumafolgestörungen gibt es noch keine verordnungsfähigen DiGA. Wir betonen, dass die Entwicklung von DiGA für diese Indikationen besonders sorgfältig erfolgen muss, da sie eine individualisierte Therapie erfordern.

Ist aus Ihrer Sicht die Finanzierung ausreichend?

Dr. Kristina Schütz:

Wir sehen die Finanzierung von DiGA als unzureichend an. Therapeuten:innen erhalten nur 7,64 Euro pro Verordnung, was den zeitlichen Aufwand für die Einführung, Aufklärung und Begleitung der Patienten:innen nicht deckt. Zudem gibt es keine Vergütung für die Zeit, die Therapeuten:innen in die Prüfung und Auswahl von DiGA investieren. Wir sehen hier eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Aufwand und der Vergütung. Außerdem gibt es eine fehlende Kostentransparenz bei Privaten Kassen und Beihilfen, die oft noch unklar auf Anfragen reagieren.

Erhalten Sie als Kammer Kenntnisse über den
Therapie-Erfolg/ Misserfolg?

Dr. Kristina Schütz:

Als Kammer erhalten wir keine direkten Informationen von den Anbietern über den Erfolg oder Misserfolg von DiGA. Wir müssen uns selbst über Studien und Forschungsprojekte informieren. Klar scheint zu sein, dass die Wirksamkeit von DiGA stark von der persönlichen Begleitung abhängt und dass unbegleitete DiGA oft nicht den gewünschten Nutzen bringen.

Welche Wünsche haben Sie im Zusammenhang mit DiGA?

Dr. Kristina Schütz:

Wenn DiGA eingesetzt werden, dann sollte die Kombination von DiGA mit persönlicher Therapie der Standard sein. Wir wünschen uns, dass DiGA als ergänzendes Werkzeug in den therapeutischen Prozess integriert werden und nicht als Ersatz für die persönliche Betreuung dienen.

Es sollten auch mehr Langzeitstudien durchgeführt werden, um die Wirksamkeit von DiGA zu belegen. Wir fordern eine sorgfältige Prüfung der Anwendungen, bevor sie auf den Markt kommen.

Bezüglich des Datenschutzes sollte es eine bessere Aufklärung der Patienten:innen über die Risiken der Datenspeicherung und -weitergabe geben. Wir wünschen uns, dass DiGA unabhängig von großen Plattformen wie Google Play oder dem App Store heruntergeladen werden können.

Außerdem sollten die DiGA besser auf die Bedürfnisse von Patienten:innen mit komplexen psychischen Störungen zugeschnitten werden. Wir betonen, dass die Entwicklung für diese Indikationen besonders sorgfältig erfolgen muss.

Und zum Schluss wünschen wir uns eine angemessene Vergütung für Therapeuten, die DiGA verordnen und begleiten. Derzeit deckt die Vergütung den Aufwand nicht ab, was vielleicht auch zu einer zurückhaltenden Verordnungsbereitschaft beiträgt.

Ihr Fazit?

Dr. Kristina Schütz:

Als Psychotherapeutenkammer sehen wir DiGA als potenziell nützliches Werkzeug in der Psychotherapie, betonen jedoch, dass sie keine persönliche Therapie ersetzen können. Wir fordern mehr Evidenz, einen besseren Datenschutz und eine angemessene Finanzierung, um den Einsatz von DiGA sinnvoll zu gestalten. Die Kombination aus persönlicher Therapie und DiGA (Blended Care) wird als vielversprechender Ansatz gesehen, der jedoch weiter erforscht und optimiert werden muss.

Das Interview wurde am 21.01.2025 geführt.

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