“Viele Ärztinnen und Ärzte wünschen sich eine kompakte, gut auffindbare Darstellung der Evidenzlage, bevor sie sich für eine Verordnung entscheiden.”
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute spricht Dr. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) und Bert Kloth (Bayer Vital GmbH) mit Marisa Kaup über das Thema “Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)”
Marisa Kaup ist Gesundheitsökonomin und leitet bei Oviva, Europas führendem Anbieter für digitale Therapien bei Adipositas und chronischen Erkrankungen, den Bereich Market Access & Public Affairs. Dort verantwortet sie die Erstattungsfähigkeit von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) unter Berücksichtigung von Evidenz, Datenschutz, Interoperabilität und regulatorischen Anforderungen. Ziel ihrer Arbeit ist es, Patientinnen und Patienten mit Adipositas, Diabetes oder Bluthochdruck einen Zugang zu digitalen, leitliniengerechten Therapien zu ermöglichen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in der Gesundheitsindustrie. Von 2016 bis 2019 war sie bei AbbVie im Bereich der Hämatoonkologie tätig, anschließend bis 2022 bei Bayer im Bereich der Kardiologie. Bei Oviva steuert sie heute die DiGA-Pipeline, entwickelt Markteintrittsstrategien und bringt gesundheitspolitische Themen im engen Austausch mit der Ärzteschaft, Fachgesellschaften, Krankenkassen und der Politik voran. Darüber hinaus engagiert sie sich im Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV), wo sie insbesondere das Thema europäische Harmonisierung von Rahmenbedingungen und Prozessen für digitale Therapien vorantreibt. | ![]() |
Marisa Kaup:
Oviva verfolgt das Ziel, die Adipositas-Therapie effektiver und zugleich breiter zugänglich zu machen. Aus unserer Sicht bieten die regulatorischen Rahmenbedingungen für DiGA, insbesondere in Deutschland, eine sehr gute Grundlage dafür. Dass dieses Versorgungsmodell funktioniert, zeigt sich unter anderem daran, dass wir im Jahr 2024 mit „Oviva Direkt für Adipositas“ bereits mehr als 100.000 Menschen erreicht haben.
Diese Zahl verdeutlicht, dass Patientinnen und Patienten heute Zugang zu einer wirksamen Therapie erhalten, wo zuvor eine erhebliche Versorgungslücke bestand. Das betrifft nicht nur die Adipositas-Therapie, sondern auch viele andere typische DiGA-Indikationen, zum Beispiel im Bereich der psychischen Gesundheit. Digitale Gesundheitsanwendungen haben das Potenzial, solche Lücken gezielt zu schließen. Gleichzeitig ermöglichen es die regulatorischen Strukturen, neue Versorgungsmodelle flexibel zu entwickeln und umzusetzen.
Marisa Kaup:
Fünf Jahre nach Einführung von DiGA in Deutschland stellen wir fest, dass sich das Bewusstsein und die Akzeptanz für digitale Anwendungen auf allen Seiten verbessert hat. Immer mehr Patientinnen und Patienten fragen aktiv nach einer DiGA, und auch Ärztinnen und Ärzte sind mit dem Konzept zunehmend vertraut. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Praxen, die bereits eine DiGA verordnet haben, künftig häufiger auch andere Anwendungen verschreiben. Dieses gewachsene Vertrauen ist eine wichtige Voraussetzung für eine flächendeckende Nutzung.
Verbesserungsbedarf gibt es weiterhin bei der technischen Integration in die ärztlichen Praxisprozesse. Die zunehmende Digitalisierung und die Telematikinfrastruktur mit der elektronischen Patientenakte (ePA), als Fundament des Ganzen, bieten hier große Chancen. Wir investieren derzeit intensiv in technische Schnittstellen, um der Ärzteschaft bei Einwilligung durch die Patienten Informationen aus der DiGA bereitzustellen. In einem nächsten Schritt könnten auch Informationen wie Medikationspläne, die bereits in der ePA vorhanden sind, direkt in die DiGA geleitet werden. So sparen sich die Versicherten den doppelten Erfassungsaufwand und die DiGA kann medizinisch relevante Informationen in die Therapie integrieren. Eine bessere Interoperabilität zwischen den Systemen kann hier zu mehr Effizienz und Akzeptanz beitragen.
Marisa Kaup:
Wie viele DiGA-Hersteller engagieren wir uns in klassischen Fortbildungsformaten – zum Beispiel bei Kongressen, in zertifizierten CME-Veranstaltungen oder durch Webinare. Die meisten Hersteller verfügen zudem über einen eigenen Außendienst oder arbeiten mit Pharmaunternehmen zusammen, um Ärztinnen und Ärzte gezielt zu informieren. All das sind wichtige Maßnahmen, die aber auch erhebliche Ressourcen binden und für kleinere Anbieter nicht immer im gleichen Umfang umsetzbar sind.
Darüber hinaus stellen wir fest, dass die Informationslage rund um DiGA nach wie vor uneinheitlich ist. Es ist sehr unterschiedlich, wie etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen oder die Krankenkassen auf ihren Websites über den Zugang und die Abrechnung informieren. In vielen Fällen sind Hersteller auf sich allein gestellt, wenn es um die Aufklärung von Leistungserbringenden oder Versicherten geht. Gleichzeitig beobachten wir, dass viele Patientinnen und Patienten nicht wissen, wie sie mit einer DiGA-Verordnung umgehen sollen. Während der Weg zur Apotheke mit einem klassischen Arzneimittelrezept allen vertraut ist, fehlt bei DiGA häufig die Orientierung. Wir versuchen, da aufzuklären und bestmöglichen Support zu bieten.
Marisa Kaup:
Die größte Hürde besteht nach wie vor im Zugang selbst. Wenn sich eine versicherte Person dazu entscheidet, ihre Gesundheit aktiv zu verbessern – sei es durch Gewichtsreduktion, Burn-Out-Therapie oder bessere Diabeteskontrolle – dauert es im Durchschnitt 13 Tage von der Verordnung bis zur tatsächlichen Nutzung der DiGA.
Im Vergleich zu einem klassischen Medikament, das direkt nach dem Arztbesuch in der Apotheke abgeholt werden kann, ist das ein deutlicher Nachteil. Die Prozesse sind bislang zu papierbasiert, zu komplex und nicht ausreichend digitalisiert. Derzeit wird an der Einführung eines elektronischen Rezepts für DiGA gearbeitet. Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt. Damit DiGA im Versorgungsalltag noch besser ankommen, muss der Zugang einfacher, schneller und digitaler werden.
Marisa Kaup:
Für unsere gelistete DiGA wie auch für neue Anwendungen, die wir planen, führen wir in der Regel randomisierte, kontrollierte Studien durch – aktuell laufen allein für Deutschland drei parallel. Diese Studiendesigns als Goldstandard sind auch in anderen medizinischen Bereichen etabliert. Die Anforderungen an die Studienqualität sind hoch. Das BfArM stellt sicher, dass nur solche Produkte gelistet werden, deren Nutzen auf fundierter Evidenz basiert.
Trotzdem hören wir aus der Ärzteschaft häufig den Wunsch nach mehr Transparenz. Im DiGA-Verzeichnis ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, auf welchen Studienergebnissen eine Anwendung basiert. Auch die Praxisverwaltungssysteme bieten derzeit nur eingeschränkten Zugang zu diesen Informationen. Viele Ärztinnen und Ärzte wünschen sich eine kompakte, gut auffindbare Darstellung der Evidenzlage, bevor sie sich für eine Verordnung entscheiden.
Oviva geht über die regulatorischen Mindestanforderungen hinaus und führt zusätzliche Studien durch – auch nach der Listung. Unsere neuesten Ergebnisse wurden zuletzt auf den europäischen Kongressen für Hypertonie und Adipositas präsentiert. Für uns ist es entscheidend, die Wirkung kontinuierlich zu überprüfen und die Anwendung auf dieser Basis weiterzuentwickeln.
Marisa Kaup:
Die öffentliche Wahrnehmung von DiGA-Preisen ist häufig von Vergleichen mit frei verfügbaren Consumer-Apps geprägt. Dabei wird übersehen, dass DiGA-Hersteller ihre Anwendungen nicht über Nutzerdaten monetarisieren, sondern in Forschung, klinische Studien und kontinuierliche Produktentwicklung investieren – vergleichbar mit pharmazeutischen oder medizintechnischen Unternehmen.
Unsere Anwendung wird regelmäßig aktualisiert. Alle zwei bis vier Wochen erscheint ein neuer Release, der auf Nutzerfeedback oder ärztliche Rückmeldungen eingeht. Hinzu kommen hohe Investitionen in Datenschutz und IT-Sicherheit. Allein für ein neues BSI-Datensicherheitszertifikat entstehen für jeden Hersteller Kosten in Millionenhöhe.
Marisa Kaup:
Ja, wir analysieren regelmäßig öffentliches Nutzerfeedback, etwa aus App-Bewertungen, und werten zusätzlich die Rückmeldungen derjenigen Nutzerinnen und Nutzer aus, die einer Datennutzung zur Weiterentwicklung explizit zugestimmt haben. Auf dieser Basis untersuchen wir, welche App-Elemente besonders hilfreich sind.
Ein Beispiel zu Oviva ist das Mahlzeiten-Logging. Wir sehen, dass Nutzerinnen und Nutzer, die diese Funktion regelmäßig verwenden, mit höherer Wahrscheinlichkeit einen relevanten Gewichtsverlust erzielen. Das hilft uns dabei, gezielt in jene Bereiche der Anwendung zu investieren, die nachweislich wirken.
Marisa Kaup:
Wir begrüßen sehr, dass sich das klare politische Bekenntnis zur Weiterentwicklung des DiGA-Konzepts auch im aktuellen Koalitionsvertrag wiederfindet. Unser zentraler Wunsch ist es, digitale Gesundheitsanwendungen konsequent in die Praxisprozesse zu integrieren. Dazu gehören zuverlässige Schnittstellen, verständliche Informationsangebote für Leistungserbringende und eine angemessene ärztliche Vergütung. Nur wenn diese strukturellen Voraussetzungen geschaffen sind, kann digitale Versorgung ihr volles Potenzial entfalten. Mit den Plänen der Regierung zur Entbürokratisierung sehen wir außerdem eine Chance, dass die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Behörden entschlackt und beschleunigt wird – damit der DiGA-Fast-Track nicht zum “Slow-Track” wird.
Das Interview wurde am 11.04.2025 geführt.
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“DiGA können dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie in den therapeutischen Prozess integriert sind und der Therapeut:in den Verlauf und die Wirkung der Anwendung kontrolliert.”
Dr. Kristina Schütz
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute spricht Dr. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) und Dr. Şevket Turgut (AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG) mit Dr. Kristina Schütz über das Thema “Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)”
Dr. Kristina Schütz ist Psychologische Psychotherapeutin und seit 2012 in eigener Praxis im Landkreis Helmstedt niedergelassen. Seit 2011 ist sie Mitglied der Kammerversammlung der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen und seit 2021 Beisitzerin im Vorstand. Vor ihrer Tätigkeit im Vorstand war sie Vorsitzende der Ausschüsse Berufsordnung & Berufsethik und Aus- Fort- & Weiterbildung sowie Mitglied des Ausschusses für Finanz- & Beitragsangelegenheiten der Kammer. Zudem ist sie stellvertretende Landesvorsitzende der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV). Durch Ihre langjährige berufspolitische Arbeit verfügt sie über umfangreiche Erfahrungen im Gesundheitswesen. Von 2002 bis 2007 war Frau Dr. Kristina Schütz wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Braunschweig und begann 2004 Beginn ihre psychotherapeutische Ausbildung. Im Anschluss war sie in der Ambulanz und Suchthilfe (2009 bis 2011) tätig. Von 2011 bis 2012 übernahm sie die stellvertretende Leitung der Psychotherapieambulanz der TU Braunschweig. | ![]() |
Dr. Kristina Schütz:
Als Psychotherapeutenkammer sehen wir digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) eher kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend. Sie können als Ergänzung zur persönlichen Psychotherapie dienen, stellen jedoch keinen Ersatz für die face-to-face-Therapie dar. Wir erwarten, dass DiGA sorgfältig geprüft und evidenzbasiert sind, insbesondere da sie oft nur vorläufig zugelassen werden, bevor Langzeitstudien vorliegen. Dieses Verfahren, bei dem DiGAs zunächst auf Probe gelistet werden, stellt ein Novum dar, das wir kritisch hinterfragen, da es bei anderen Medizinprodukten deutlich strengere Kontrollen gibt. Zudem ist zu betonen, dass die persönliche Betreuung durch einen Psychotherapeuten der „Goldstandard“ bleibt und dass die Erwartungen an DiGA, insbesondere in Bezug auf ihre Fähigkeit, Therapieplätze zu ersetzen oder Wartelisten zu überbrücken, realistisch bleiben müssen.
Dr. Kristina Schütz:
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass DiGA das Bewusstsein für psychische Erkrankungen in der Öffentlichkeit steigern und einen niedrigschwelligen Zugang zu Behandlungen bieten können. Sie können eine sinnvolle Ergänzung zur Therapie sein, insbesondere wenn sie in Kombination mit persönlicher Betreuung eingesetzt werden (sogenannte Blended-Care-Ansätze) und eine geeignete Indikation wie beispielsweise Schlafstörungen vorliegt. Die TONI-Studie (Hinweis: TONI – One for all? Participatory development of a transtheoretic and transdiagnostic online intervention for blended care (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2214782924000162)) zeigt beispielsweise, dass die Kombination aus persönlicher Therapie und online Intervention in verschiedenen Therapieverfahren nutzbar ist und gut angenommen wird. Wir erkennen an, dass DiGA für bestimmte Patientengruppen, insbesondere für antriebsstarke und weniger stark belastete Patienten:innen, durchaus hilfreich sein können. Einige Patienten:innen nutzen die Anwendungen sehr konsequent und berichten von positiven Effekten, insbesondere wenn die DiGA in den Therapieprozess eingebettet sind. Dies sind alles Punkte, die gut sind.
Die hohe Abbruchquote bei unbegleiteter Nutzung von DiGA sind aus unserer Sicht ein großes Problem und kritikwürdig. Viele Patienten:innen starten die Anwendungen erst gar nicht oder brechen sie frühzeitig ab, insbesondere wenn sie keine persönliche Unterstützung erhalten. Dies führt dazu, dass die erhofften Therapieerfolge ausbleiben und die Investitionen in die DiGA oft „ins Leere laufen“. Es können auch unerwünschte Wirkungen auftreten, die dann nicht aufgefangen werden können. Wir äußern zudem Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit, da die Daten der Patienten:innen über öffentliche Plattformen gespeichert und weitergegeben werden. Kritisch sind auch die vorläufigen Zulassungen von DiGA zu sehen, die oft ohne ausreichende Langzeitstudien erteilt werden. Dies führt zu Unsicherheiten hinsichtlich der langfristigen Wirksamkeit und Sicherheit der Anwendungen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die hohe Erwartungshaltung, die an DiGA gestellt wird, insbesondere die Annahme, dass sie Wartelisten überbrücken oder Therapien ersetzen könnten. Wir betonen, dass dies nicht der Fall ist und dass unbegleitete DiGA sogar Risiken bergen können, insbesondere bei Patienten:innen mit schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen oder Traumafolgestörungen. Bezüglich der Verordnungspraxis zeigen aktuelle Daten, dass nur etwa 12% der niedergelassenen Ärzte:innen und Psychotherapeuten:innen bisher DiGA verordnet haben. Die Zurückhaltung ist groß, und die Verordnungszahlen bleiben hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück.
Dr. Kristina Schütz:
Als Psychotherapeutenkammer dürfen wir keine Werbung für spezifische Medizinprodukte wie DiGA machen, da wir eine Körperschaft öffentlichen Rechts sind. Stattdessen informieren wir unsere Mitglieder über die Vor- und Nachteile von DiGA und betonen die Bedeutung einer begleiteten Nutzung. Wir setzen uns für eine kritische Reflexion des Einsatzes von DiGA ein und fordern mehr Aufklärung für Patienten:innen und Therapeuten:innen. Kammern und Verbände informieren hierzu ihre Mitglieder, um sie auf dem neuesten Stand zu halten und eine berufsrechtliche Orientierung zu bieten.
DiGA können dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie in den therapeutischen Prozess integriert sind und der Therapeut:in den Verlauf und die Wirkung der Anwendung kontrolliert. Eine unbegleitete Nutzung, insbesondere als Überbrückung von Wartelisten, lehnen wir ab, da dies zu hohen Abbruchquoten und potenziellen Risiken für die Patienten führen kann.
Dr. Kristina Schütz:
Da fallen mir einige Hürden ein:
• Datenschutz: Die Speicherung und Weitergabe sensibler Gesundheitsdaten über öffentliche App-Stores ist ein großes Risiko. Patienten:innen sind sich oft nicht bewusst, wie viele Daten sie preisgeben und wie sensibel diese Daten sind. Wir fordern eine bessere Aufklärung über die Risiken der Datenspeicherung und -weitergabe.
• Abbruchquote: Viele Patienten:innen brechen die Nutzung von DiGA frühzeitig ab, insbesondere wenn sie nicht begleitet werden. Dies führt dazu, dass die erhofften Therapieerfolge ausbleiben und die Investitionen in die DiGA oft „ins Leere laufen“. Zudem gibt es nach unserem Eindruck besonders bei jungen Patienten:innen häufig eine kritische Haltung, so dass diese trotz Digitalisierung die Präsenztherapie bevorzugen, und ihre Medienzeit eher kritisch oder als Problem sehen.
• Qualität und Zulassung: Die vorläufige Zulassung von DiGA ohne ausreichende Langzeitstudien sehen wir kritisch. Wir fordern eine sorgfältigere Prüfung der Anwendungen, bevor sie auf den Markt kommen.
• Indikationen: Für bestimmte psychische Störungen wie Zwangsstörungen oder Traumafolgestörungen gibt es noch keine verordnungsfähigen DiGA. Wir betonen, dass die Entwicklung von DiGA für diese Indikationen besonders sorgfältig erfolgen muss, da sie eine individualisierte Therapie erfordern.
Dr. Kristina Schütz:
Wir sehen die Finanzierung von DiGA als unzureichend an. Therapeuten:innen erhalten nur 7,64 Euro pro Verordnung, was den zeitlichen Aufwand für die Einführung, Aufklärung und Begleitung der Patienten:innen nicht deckt. Zudem gibt es keine Vergütung für die Zeit, die Therapeuten:innen in die Prüfung und Auswahl von DiGA investieren. Wir sehen hier eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Aufwand und der Vergütung. Außerdem gibt es eine fehlende Kostentransparenz bei Privaten Kassen und Beihilfen, die oft noch unklar auf Anfragen reagieren.
Dr. Kristina Schütz:
Als Kammer erhalten wir keine direkten Informationen von den Anbietern über den Erfolg oder Misserfolg von DiGA. Wir müssen uns selbst über Studien und Forschungsprojekte informieren. Klar scheint zu sein, dass die Wirksamkeit von DiGA stark von der persönlichen Begleitung abhängt und dass unbegleitete DiGA oft nicht den gewünschten Nutzen bringen.
Dr. Kristina Schütz:
Wenn DiGA eingesetzt werden, dann sollte die Kombination von DiGA mit persönlicher Therapie der Standard sein. Wir wünschen uns, dass DiGA als ergänzendes Werkzeug in den therapeutischen Prozess integriert werden und nicht als Ersatz für die persönliche Betreuung dienen.
Es sollten auch mehr Langzeitstudien durchgeführt werden, um die Wirksamkeit von DiGA zu belegen. Wir fordern eine sorgfältige Prüfung der Anwendungen, bevor sie auf den Markt kommen.
Bezüglich des Datenschutzes sollte es eine bessere Aufklärung der Patienten:innen über die Risiken der Datenspeicherung und -weitergabe geben. Wir wünschen uns, dass DiGA unabhängig von großen Plattformen wie Google Play oder dem App Store heruntergeladen werden können.
Außerdem sollten die DiGA besser auf die Bedürfnisse von Patienten:innen mit komplexen psychischen Störungen zugeschnitten werden. Wir betonen, dass die Entwicklung für diese Indikationen besonders sorgfältig erfolgen muss.
Und zum Schluss wünschen wir uns eine angemessene Vergütung für Therapeuten, die DiGA verordnen und begleiten. Derzeit deckt die Vergütung den Aufwand nicht ab, was vielleicht auch zu einer zurückhaltenden Verordnungsbereitschaft beiträgt.
Dr. Kristina Schütz:
Als Psychotherapeutenkammer sehen wir DiGA als potenziell nützliches Werkzeug in der Psychotherapie, betonen jedoch, dass sie keine persönliche Therapie ersetzen können. Wir fordern mehr Evidenz, einen besseren Datenschutz und eine angemessene Finanzierung, um den Einsatz von DiGA sinnvoll zu gestalten. Die Kombination aus persönlicher Therapie und DiGA (Blended Care) wird als vielversprechender Ansatz gesehen, der jedoch weiter erforscht und optimiert werden muss.
Das Interview wurde am 21.01.2025 geführt.
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am 2. April 2025 │16:00 bis 19:00 Uhr
Ärztekammer Niedersachsen
Berliner Allee 20 │30175 Hannover
Hinweis: Diese Veranstaltung ist mit drei Fortbildungspunkten bei der Ärztekammer Niedersachsen anerkannt.
Impuls von Patrick Gijbels (Vorstand Adipositas Verband Deutschland e. V.) – zugesagt
Impuls von Prof. Martina de Zwaan (Leiterin der Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover) – zugesagt
Impuls von Prof. Susanne Reger-Tan (Vorstand Deutsche Adipositas Gesellschaft) – zugesagt
Moderation: Jens Wagenknecht
Prof. Julian Mall (Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral-,
Gefäß- und Adipositaschirurgie im Klinikum Region Hannover am Klinikum
Nordstadt) – zugesagt
Tim Steimle (Leiter Fachbereich Arzneimittel bei der Techniker
Krankenkasse) – zugesagt
Patrick Gijbels (Vorstand Adipositas Verband Deutschland e. V.) – zugesagt
Prof. Martina de Zwaan (Leiterin der Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover) – zugesagt
Prof. Susanne Reger-Tan (Vorstand Deutsche Adipositas Gesellschaft) – zugesagt
Für alle Teilnehmenden und Referierenden!
Die Mitgliederversammlung der Qualitätsinitiative e. V. findet im diesem Jahr in hybrider Form am
statt. Sie können vor Ort in Hannover teilnehmen oder sich virtuell dazuschalten.
Bitte informieren Sie uns bis spätestens 15. November 2024 über Ihre Teilnahme.
Wir benötigen Ihre Rückmeldung zwingend, um Ihnen die Zugangsdaten für Ihre digitale Teilnahme zusenden zu können. Die Mitgliederversammlung wird in hybrider Form durchgeführt. Abstimmungen erfolgen durch Handzeichen, die auch bei Teilnahme durch Videokonferenz abgegeben werden können.
Wir senden Ihnen eine Woche vor der Mitgliederversammlung alle nötigen Informationen an die hinterlegte E-Mail-Adresse.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung!
“Insbesondere im Hinblick auf die Kostenentwicklung müssen Evidenzlücken durch anwendungsbegleitete Studien vor Markteintritt geschlossen werden.”
Sabrina Jacob
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute spricht Dr. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) mit Sabrina Jacob über das Thema “Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)”
Sabrina Jacob leitet seit dem 1. März 2022 die Landesvertretung der Techniker Krankenkasse in Bremen und seit Dezember 2023 kommissarisch die TK-Landesvertretung Niedersachsen. In ihrer Tätigkeit verantwortet sie neben der gesundheitspolitischen Arbeit die Vertragsbeziehungen zu den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, Krankenhäusern, Pflegediensten und anderen Leistungserbringern. Ein weiterer Schwerpunkt der TK-Landesvertretung ist die landesweite Medienarbeit. Die 43-jährige Krankenkassenbetriebswirtin verfügt über langjährige Erfahrungen in der Gesundheitsbranche. Nach der Ausbildung bei der IKK Bremen und Bremerhaven wechselte sie 2002 zur BKK Airbus. Seit 2005 bei der TK in unterschiedlichen Bereichen beschäftigt, verantwortete sie ab 2012 den Bereich Gesundheitswesen der TK-Landesvertretung in Kiel. 2020 leitete sie das Dialog- und Contentmarketing-Team in der Unternehmenszentrale. | ![]() |
Sabrina Jacob:
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) gehören seit Oktober 2020 zur Gesundheitsversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung und bieten unserer Ansicht nach ein großes Potenzial für unsere Versicherten.
Die Apps auf Rezept sollen zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen, indem sie beispielsweise langfristige Verhaltensänderungen unterstützen oder eine engmaschige Begleitung einer Erkrankung möglich machen. Insbesondere für Menschen mit chronischen Erkrankungen, kann dies zu einer besseren Einhaltung der Therapieziele im Rahmen des Behandlungsprozesses führen.
Darüber hinaus können DiGA die Versorgungssituation künftig mit weiteren Ansätzen verbessern: Sie können Schmerzmedikation zum Beispiel durch regelmäßige Übungen verringern oder Medikationen gänzlich ersetzen, wenn die Anwendung für eine Erkrankung einen nachgewiesenen, vergleichbaren Effekt erzielt. Automatisch erzeugte Fortschrittsberichte einer DiGA oder durch die Nutzerinnen und Nutzer erhobene Daten über den Therapieerfolg ermöglichen auch behandelnden Ärztinnen und Ärzten einfachere Verlaufskontrollen und Bewertungen des Behandlungsfortschritts. Sie bilden somit einen wichtigen Baustein in einer modernen Kommunikation zwischen Arzt bzw. Ärztin und Patient bzw. Patientin. Sie stärken zudem die Gesundheitskompetenz, indem Patientinnen und Patienten selbst über relevante Daten verfügen, sie einsehen und mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin teilen können.
Patientinnen und Patienten können mit Hilfe von DiGA also Krankheiten erkennen, überwachen oder behandeln und bieten zudem ein großes Innovationspotenzial. So richtig angekommen in der Versorgung sind sie jedoch bisher nicht.
Sabrina Jacob:
Apps auf Rezept sind für die Patientinnen und Patienten ein wichtiger Schritt in der Digitalisierung. Bis Ende 2023 wurden 12.128 Freischaltcodes der 957.000 TK-Versicherten in Niedersachsen eingelöst, mit denen sie DiGA nutzen können. Innerhalb der letzten zwölf Monate hat sich bundesweit (11,1 Millionen Versicherte) die absolute Zahl der bei der TK eingelösten Freischaltcodes von rund 76.000 auf 147.000 nahezu verdoppelt. Bei der Ausgestaltung dieses Versorgungsbereichs sehen wir allerdings weiterhin Optimierungsbedarf. Es gelingt nicht allen DiGA-Herstellern den Nutzen für ihre Anwendung nachzuweisen. Im ersten Jahr können DiGA vorläufig zugelassen werden, ohne dass sie ihren therapeutischen Nutzen nachweisen müssen. Dieses schnellere „Fast-Track-Verfahren“ zur Zulassung nutzen inzwischen 80 Prozent der DiGA-Anbieter. Zwei Drittel der bisher erhältlichen Apps konnten ihre Wirksamkeit innerhalb des ersten Jahres jedoch nicht nachweisen. Einigen Herstellern gelang dies auch nicht während der verlängerten Erprobungsphase.
Sabrina Jacob:
Damit DiGA tatsächlich im Versorgungsalltag ankommen, braucht es mehr Informationen zu den Möglichkeiten der Apps auf Rezept für die Patientinnen und Patienten, aber auch für Ärztinnen und Ärzte.
Die TK hat daher gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Vandage und der Universität Bielefeld in diesem Jahr den zweiten DiGA-Report veröffentlicht. Darin ziehen wir ein ausführliches Resümee, inwiefern die Digitalen Gesundheitsanwendungen im Gesundheitssystem angekommen sind und an welchen Stellschrauben noch gedreht werden muss, damit die Apps auf Rezept zukünftig besser in die Versorgung integriert werden können.
Sabrina Jacob:
Wir beobachten, dass die Kosten für DiGA kontinuierlich ansteigen. Während der Durchschnittspreis für eine DiGA im Jahr 2020 noch bei 418 Euro lag, waren es 2023 bereits 628 Euro. Problematisch ist, dass Hersteller im ersten Erstattungsjahr die Preise frei festlegen können. Dies führt dazu, dass die Versichertengemeinschaft für Anwendungen zahlt, deren Nutzen nicht ausreichend nachgewiesen ist. Zwar können die Kassen zurückfordern, was überhöht gezahlt wurde, jedoch bleiben sie im Falle von Insolvenzen auf einem Teil der Rückforderungen sitzen. Allein die offenen Rückzahlungen aufgrund von Insolvenzen belaufen sich mittlerweile auf 2,6 Millionen Euro zulasten der TK.
Sabrina Jacob:
Insbesondere im Hinblick auf die Kostenentwicklung müssen Evidenzlücken durch anwendungsbegleitete Studien vor Markteintritt geschlossen werden. Nur so ist es auch möglich, den tatsächlichen Preis einer DiGA abschätzen zu können. Der Preis kann an die Erkenntnisse der Studienergebnisse gekoppelt werden und die Hersteller können bei höherer Evidenz auch einen höheren Preis veranschlagen.
Beim Studiendesign sollte die Anzahl der DiGA-Nutzerinnen und -nutzer ausreichend hoch sein, da zu niedrige Zahlen die Aussagekraft der Studienergebnisse einschränken. Es ist daher wichtig, dass die Anbieter in regelmäßigen Abständen neue Studiendaten vorlegen, um ein konstantes Qualitätsmonitoring der DiGA zu gewährleisten.
Sabrina Jacob:
Dadurch, dass die DiGA-Hersteller ihren Preis im ersten Jahr frei festsetzen können, zeigen sich Preisspannen zwischen 119 bis 2.077,40 Euro für einen Anwendungszeitraum von (in der Regel) 90 Tagen. Durch die steigenden Herstellerpreise entsteht ein Kostenrisiko für die Gesetzlichen Krankenversicherungen und die Beitragszahlenden. Angesichts dessen muss die Preisgestaltung überarbeitet werden. Unserer Ansicht nach müssen sich die DIGA-Preise an den Preisen analoger Therapien orientieren und dann abhängig davon, ob ein Nutzennachweis vorliegt, Zu- und Abschläge gewähren. Nach Ablauf eines Jahres sollte es vorläufige Preise geben, die sich an den verhandelten Preisen orientieren, um erhöhte Rückzahlungsansprüche und finanziellen Schaden der GKV zu vermeiden.
Sabrina Jacob:
Es gibt zwei Wege, um eine DiGA nutzen zu können: Entweder über eine ärztliche Verordnung oder durch eine Anfrage direkt bei der TK. Etwa 80 Prozent der Verordnungen erfolgen über den behandelnden Arzt beziehungsweise die behandelnde Ärztin und 20 Prozent durch eine Anfrage der Versicherten bei der Kasse.
Sabrina Jacob:
Nein, wir erhalten zudem nicht einmal Kenntnis darüber, ob die Patientinnen und Patienten die verschriebenen Apps überhaupt regelmäßig nutzen oder nur einmalig aufrufen. Uns als Krankenkasse entstehen immer die vollen Kosten der DiGA. Es ist eine regulatorische Anpassung erforderlich, dass die tatsächliche Nutzung von den DIGA-Herstellern nachgewiesen werden muss. Die Versichertengemeinschaft sollte nur für Anwendungen zahlen, die auch tatsächlich von Patientinnen und Patienten genutzt wurden.
Das Interview wurde am 23.08.2024 geführt.
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Die Qualitätsinitiative e. V. fördert in diesem Jahr eine Veranstaltung der Betreuungsnetz schwerkranker Kinder UG(h)
Die Betreuungsnetz schwerkranker Kinder UG(h) ist Trägerin der spezialisierten ambulanten
Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche in Niedersachsen (SAPV-KJ) und organisiert und
koordiniert diese Versorgungsleistung seit nunmehr 13 Jahren in Niedersachsen.
Die SAPV-KJ wird durch multiprofessionelle Versorgungsteams erbracht, die sich aus
medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Fachkräften zusammensetzen. Das
übergeordnete Ziel der SAPV-KJ ist es, die Lebensqualität schwerkranker Kinder und
Jugendlicher bestmöglich zu erhalten und ihr Leid zu lindern. Dabei sollen
Krankenhausaufenthalte weitestgehend vermieden werden, um den jungen Patientinnen und
Patienten ein sicheres und stabiles Umfeld in einer vertrauten Umgebung im Kreis ihrer Familien
zu ermöglichen.
Das spannende Programm zu der Veranstaltung am 6. und 7. Juni 2024 in Hannover finden Sie hier:
“Viele Betroffene erleben Stigmatisierung und zögern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.”
Heike Sander
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute hat sich Dr. rer. nat. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) mit Heike Sander über das Thema “Versorgungslücke in der Adipositas-Versorgung?” ausgetauscht.
Heike Sander ist Krankenkassenbetriebswirtin und Landesgeschäftsführerin der BARMER in der Landesvertretung Niedersachsen/Bremen. Sie ist seit über 40 Jahren in verschiedenen Krankenkassensystemen, Bundesländern und Aufgabenstellungen in der gesetzlichen Krankenversicherung aktiv. | ![]() |
Heike Sander:
Die Versorgung von Menschen mit Adipositas zeigt sich durch diverse Risikofaktoren und vielschichtige Hintergründe als sehr komplex. Viele Betroffene erleben Stigmatisierung und zögern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Bei der Entstehung der Adipositas spielen häufig mehrere Risikofaktoren eine Rolle. Dazu gehören unter anderem das Überangebot an hochkalorischen Nahrungsmitteln, Übergewicht in der Familie, Bewegungsmangel, Schlafmangel, Stress, Nebenwirkungen von Medikamenten sowie Essstörungen. Dies hat auch der G-BA am 16. November letzten Jahres in seinem Beschluss zum Disease-Management-Programm (DMP) berücksichtigt und für das DMP-Adipositas einen multimodalen Behandlungsansatz aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie gewählt. Teil der Richtlinie ist zudem eine standardisierte Diagnostik und Behandlung von Komorbiditäten. Wir als BARMER begrüßen diesen erweiterten Ansatz.
Der aktuelle BARMER-Arztreport zeigt, dass rund 22.000 Kinder im Alter bis zu neun Jahren im Jahr 2022 in Niedersachsen an Adipositas erkrankt waren. Die BARMER weckt deshalb seit 2015 gemeinsam mit der Sarah Wiener Stiftung durch die Initiative ‚Ich kann kochen!‘ das Interesse von Kindern am Umgang mit frischen Lebensmitteln. Bis zum Jahr 2026 sollen bundesweit insgesamt sogenannte 40.000 Genussbotschafterinnen und Genussbotschafter an der Initiative teilnehmen. Bisher hat die Initiative mehr als 29.000 Fachkräfte in ganz Deutschland entsprechend fortgebildet.
Unser Ziel ist es, möglichst viele Kinder für gesundes Essen zu begeistern. Dafür freuen wir uns auf noch mehr Fachkräfte und Einrichtungen, die mithelfen, dass Kinder gesund ins Leben starten.“
Das Statement wurde am 24.04.2024 gegeben.
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Die Qualitätsinitiative e. V. ist ab sofort unter einer neuen Adresse sowie Telefon- und Faxnummer erreichbar:
Qualitätsinitiative – Niedersächsischer Verein zur Förderung der Qualität im Gesundheitswesen e. V.
Geschäftsstelle
c/o Ärztekammer Niedersachsen
Berliner Allee 20, 30175 Hannover
Telefon: 0511 3802 2002 Fax: 0511 3802 2099
“Der Blick auf Menschen mit Adipositas muss sich ändern, Schuldzuweisungen bringen nichts und sind auch fehl am Platz.”
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute spricht Kerstin Zuege (Novo Nordisk Pharma GmbH) mit Prof’in. Dr. Martina de Zwaan über das Thema “Versorgungslücke in der Adipositas-Versorgung?”
Prof’in. Dr. med. Martina de Zwaan ist seit 2011 Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie hat in Wien Medizin studiert ist und die Facharztweiterbildungen für Psychosomatik und für Psychiatrie absolviert. Sie hat eine Weiterbildung in kognitiver und Verhaltenstherapie. Sie hat sich im Rahmen von 2 Forschungsaufenthalten in den USA wissenschaftlich vor allem mit Essstörungen und Adipositas beschäftigt. Sie war Gründungsmitglied und erste Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS) und ist past Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). Aktuell ist sie mitverantwortlich für Revision der Leitlinie zu „Diagnostik und Therapie der Adipositas“. | ![]() |
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:
In der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) gibt es die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA), die sich mit der Adipositas-Thematik bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Es ist wichtig, schon sehr früh mit Präventions- und Behandlungsmaßnahmen zu beginnen. Es ist lange bekannt, dass dicke Kinder zu dicken Erwachsenen werden. Dies gilt es zu durchbrechen, denn man weiß auch, dass sehr stark übergewichtige Kinder und Jugendliche später nicht nur gesundheitliche Probleme bekommen, sondern auch immense Nachteile in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft erfahren. Hier wächst eine sogenannte „lost Generation“ heran, um die wir uns besonders kümmern und das ganze Sozialsystem mit in die Therapie einbeziehen müssen. Hier nützt es nichts, nur Anhörungsunterricht in Schulen oder Kindergärten zu machen, wenn die Eltern das nicht mittragen. Alle müssen mitgenommen werden. Auch im DMP-Entwurf kommen diese jungen Patienten noch nicht vor, hierzu gibt es zwar Gespräche aber angekommen ist die Problematik noch lange nicht.
Mit älteren Patienten, die schon länger unter Adipositas leiden ist es schwieriger, da meist schon zahlreihe Komorbiditäten vorliegen. Diese Gruppe hat einen hohen Leidensdruck auf Grund ihrer Multimorbidität und verursacht dadurch auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Umso wichtiger ist es Menschen mit Adipositas frühzeitig zu behandeln.
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:
Eine leiliniengerechte und bedarfsorientierte Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Adipositas existiert derzeit in Deutschland nicht. Aktuell erhält nur ein Bruchteil der Betroffenen eine Versorgung gemäß medizinisch-wissenschaftlicher Leitlinien und das, obwohl Adipositas schon lange als chronische Erkrankung anerkannt ist. Gerade sozial schwache Schichten mit geringerem Gesundheitsbewusstsein und Gesundheits-kompetenz werden nicht oder nur schwer erreicht. Essen hat für viele eine große Bedeutung, nicht nur um satt zu werden, sondern auch für das soziale Miteinander oder zur Regulation negativer Emotionen. Diese verhaltensbezogenen Faktoren sind sowohl im Kontext soziokultureller Rahmenbedingungen als auch auf dem Hintergrund der individuellen Sozialisation (individuelle Lerngeschichte) zu verstehen. Diese Faktoren können große Hürden für eine Gewichtsabnahme darstellen. Diese Hindernisse müssen auch durch Verhältnisprävention abgebaut werden. Politische Maßnahmen wie Zucker- und Fettreduktionsstrategien bei Lebensmitteln sind gefordert. Die Einführung des Nutri-Scores war ein erster Schritt, der allerdings ausgebaut werden muss. Vergleiche innerhalb von Produktgruppen, also welche Pizza hat im Vergleich zur anderen einen besseren Score hat, sind zum Teil irreführend. Ein Werbeverbot für Lebensmittel das speziell auf Kinder abzielt wäre zum Beispiel auch wünschenswert. Die Lebensmittelindustrie ist mächtig und es ist schwer hier etwas zu bewegen, die Politik setzt hier zu sehr auf Eigenverantwortung bei Konsumenten und Industrie.
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:
Meines Erachtens ist Adipositas weder in der Politik noch bei Ärztinnen und Ärzten noch in der Gesellschaft als Krankheit ausreichend angekommen.
Der Blick auf Menschen mit Adipositas muss sich ändern, Schuldzuweisungen bringen nichts und sind auch fehl am Platz. Je höher der BMI, desto schwieriger ist es für die Betroffenen, ein gesundes Körpergewicht zu erreichen und dieses auch dauerhaft zu halten Multiple Faktoren wie adipogene Lebens- und Umweltbedingungen, genetische Veranlagung, neuroendokrine Prozesse und auch psychische Faktoren beeinflussen das Gewicht. Selbst bei Behandlern fehlt zum Teil die Akzeptanz und die Frustration ist groß, denn bislang fehlt hierfür oftmals das Handwerkszeug. Patienten zu einem anderen Lebensstil zu bewegen ist auch müßig. Die naive Vorstellung, dass hier ein paar Beratungstermine ausreichen um nachhaltige Erfolge zu erzielen ist leider noch weit verbreitet. Aber wenn das Thema immer mehr in den Fokus rückt wird sich hoffentlich auch die Einstellung zur Adipositas und deren Behandlung langsam ändern. Auch Ärztinnen und Ärzte müssen aus diesem frustrierten Nichtstun herausgeholt werden und als Therapeuten motivieren und auch Rückfälle anerkennen. Durch mehr Unterstützung und Finanzierung der Behandlung von Adipositas, mit Behandlungsstrategien und neuen Medikamenten bekommen Ärztinnen und Ärzte hoffentlich wieder eine neue Perspektive. Wichtig ist es, auch Rückschläge in der Behandlung als normal zu akzeptieren, denn es gibt immer Situationen im Leben, die von der Einhaltung von Therapien ablenken.
Dazu hat die DAG gemeinsam mit der DDG, aus aktuellem Anlass, eine Weiterbildung entwickelt. Denn wir hoffen, dass die Richtlinie zum DMP Adipositas noch in diesem Jahr finalisiert wird. Mit der Weiterbildungsmaßnahme sollen Arztinnen und Ärzte motiviert und mit Wissen über alle Therapie-Bausteine wie Ernährung, Bewegung, Psychologie und medikamentöse Therapie ausgestattet werden, um Patienten effektiv zu behandeln. Der erste Kurs zum Adiposiologen bzw. zur Adiposiologin startet im Herbst in Hamburg und ich würde mich freuen, auch in Hannover zeitnah einen Kurs anbieten zu können.
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:
Das ist schwer abzuschätzen, ich habe große Sorge, dass das DMP Adipositas das gleiche Schicksal erleidet wie einige andere DMPs vorher auch schon, es nicht umgesetzt wird und ein Papiertiger bleibt. Ich hoffe, dass es irgendwann ein Erfolgsmodell wird, so wie das DMP Diabetes. Dann hätten wir auch endlich mehr Einblick, Daten und Zahlen zu Adipositas und auch zu den Komorbiditäten. Der Weg dahin ist steinig und die inhaltliche Ausgestaltung mit all den Bausteinen für eine ideale Adipositastherapie geht leider schleppend voran.
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:
Was ich als Österreicherin interessant finde ist, dass es viele einzelne hochengagierte Projekte gibt, die sich unendlich bemühen Versorgungsstrukturen zu verbessern. Ein solches Engagement von unterschiedlichen Berufsgruppen ist für mich ein deutsches Phänomen. Es gibt und gab auch immer wieder Projekte, die über unterschiedliche Geldgeber gefördert wurden, zum Beispiel ACHT als Nachsorgeprogramm zur strukturierten, sektorenübergreifenden Versorgung nach bariatrisch-metabolischer Operationen, durch den Innovationsfonds. Auch lokale Aktivitäten wurden auf Grund des hohen Bedarfs entwickelt, wie früher in der MHH das intensive Adipositas-Programm „Leichter durchs Leben“ zusammen mit Kollegeninnen und Kollegen aus den Bereichen Ernährung, Bewegung und mit psychologischer Betreuung. Ein anderes Beispiel ist DOC WEIGHT® als anerkanntes und zumindest anteilig finanziertes Schulungsprogramm zur Therapie der höhergradigen Adipositas (BMI > 35). Das ist alles gut gemeint, aber diese isolierten Maßnahmen reichen leider nicht aus. In der Region Hannover haben wir es zumindest schon mal geschafft alle Beteiligten aus dem Gesundheitssystem in einem Adipositas Netzwerk an einen Tisch zu bringen.
Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:
Was mir vorschwebt ist ein interdisziplinäres Netzwerk mit allen Stakeholdern. Ein enges klares Therapieangebot, am besten unter einem Dach, Hand in Hand zusammenarbeitend. Hier würden Patientinnen und Patienten bei der Behandlung auch über die unterschiedlichen Disziplinen hinaus nicht verloren gehen, sich besser betreut und mitgenommen fühlen.
Wir brauchen einen Plan, wie die aktuell mangelhafte Vernetzung einzelner Leistungserbringer verbessert werden soll. Einzelne Therapiebausteine in Isolation anzubieten widerspricht dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung nach Interdisziplinarität und Vernetzung und würde dem komplexen Krankheitsbild Adipositas nicht gerecht werden. Wie sollen die Leitungserbringer miteinander kommunizieren, um Informationsverlust zu vermeiden, die Therapiebausteine aufeinander abzustimmen und den optimalen Therapieplan für die Patienten zu erstellen.
Die Politik sollte bei der Prävention forscher vorangehen und Ansätze wie die zur Schulverpflegung und flächendeckenden DGE-Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) konsequenter ausweiten. Was ich mir auch wünsche ist, mehr Mut und verpflichtende Umsetzung der DMPs.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass sich das Bewusstsein für Adipositas zunehmend durchsetzt und immer mehr Menschen es als Krankheit anerkennen, beziehungsweise zumindest akzeptieren. Das Wissen, dass Erkrankte nicht allein dafür verantwortlich sind und es nicht einfach ist Gewicht zu verlieren und dauerhaft zu halten setzt sich zunehmend durch. Adipositas ist eine chronische Erkrankung, das bedeutet, sie ist nicht heilbar, aber mit einer lebenslangen Therapie kontrollierbar. Immer mehr Menschen erkennen, dass die Verantwortung nicht allein bei den Menschen mit Adipositas selbst gesehen werden kann. Ob sie es dann als chronische Erkrankung anerkennen oder nicht ist mir da nicht mehr so wichtig, Die Erkenntnis, dass Menschen langdauernde Unterstützung brauchen, wiegt da viel schwerer.
Das Interview wurde am 01.08.2023 geführt.
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“Wichtig ist, dass der Patient weiß: Du hast Adipositas und man kann etwas dagegen tun.”
Michael Wirtz
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute sprechen Kerstin Zuege (Novo Nordisk Pharma GmbH), Dr. rer. nat. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) und Dr. Şevket Turgut M.A. (AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG) mit Michael Wirtz über das Thema “Versorgungslücke in der Adipositas-Versorgung?”
Michael Wirtz, Jahrgang 1971, wohnhaft in Winsen / Luhe, ist seit Gründung der AdipositasHilfe Deutschland e.V. in 2013 als Vorstandsmitglied aktiv. In der Selbsthilfe ist er bereits 20 Jahre aktiv. Seit 2021 ist er Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss. Er ist weiterhin in zahlreichen indikationsübergreifenden Projekten und Initiativen aktiv und beschäftigt sich intensiv mit gesundheitspolitischen Themen. Neben diesem ehrenamtlichen Engagement geht er noch einer Vollzeitbeschäftigung als Bau-/Projektleiter nach. | ![]() |
Michael Wirtz:
Prinzipiell findet die Behandlung der Adipositas im niedergelassenen Bereich so gut wie gar nicht statt. Damit meine ich die Grundversorgung im Bereich der Hausärzte. Das hängt damit zusammen, dass es dafür keine Vergütung gibt. Es gibt im Moment keine Leistung im Leistungskatalog, die in irgendeiner Form auf das Thema Adipositas gemünzt ist. Alles andere läuft in der Regel über die Reha-Verordnung nach § 43 SGB V, der Ernährungs-Therapie. Dieses Wissen ist bei den Allgemeinmedizinern vielleicht vorhanden, bei vielen wird es aber praktisch nicht angewendet. Und das ist das Problem. Und wenn wir ein Stück weiter gehen, dann haben wir natürlich bei der Behandlung von Menschen mit Adipositas große Probleme, zum Beispiel im gynäkologischen Bereich oder bei Zahnärzten. Dahingehend, dass die Behandlungsstühle oft von der Tragfähigkeit nicht ausreichend sind. Wir haben Probleme überall da, wo Behandlungsstühle und Liegen beispielsweise ein Gewicht von mehr als 130 Kilogramm tragen müssen, wie in der Chirurgie oder beim MRT, welches in der Regel nur auf 130 Kilogramm zugelassen ist. Viele Menschen mit Adipositas brauchen daher ein offenes MRT. Einige müssen dafür extra einen Antrag bei der Krankenkasse stellen, obwohl sie nachweislich mehr als 130 Kilogramm wiegen.
Michael Wirtz:
Was wir häufig erleben und immer wieder berichtet bekommen ist, dass Ärzte unabhängig vom Krankheitsbild die Erkrankung auf das Gewicht reduzieren. Häufig kommt die Aussage „Sie müssen erst einmal abnehmen“. Es gibt dann aber keine Hilfestellung, wie man abnehmen kann. Im Umkehrschluss geht man aber in der Medizin häufig hin und behandelt nur das Ergebnis. Wie zum Beispiel beim Diabetes, bei der Hypertonie oder sonstige Indikationen, wo man quasi nur versucht, die aktuellen Symptome zu lindern. Bei Adipositas gibt es keine Leistungen im GKV-Abrechnungssystem, die eine kausale Behandlung honoriert. Lediglich die chirurgische Therapie ist in der Kostenerstattung. Es ist eine Katastrophe: Inzwischen gibt es gute medikamentöse Therapieoptionen für Menschen mit Adipositas, die allerdings aufgrund des „Lifestyle-Paragraphen“ nur eingeschränkt zugänglich sind. Denn Arzneimittel sind nach § 34 SGB V von der Versorgung für Adipositas ausgeschlossen. Dies muss dringend geändert werden. Am Ende muss es für die Adipositas Behandlung, für eine definierte Patientengruppe, eine Ausnahmegenehmigung geben, damit ein Großteil der Betroffenen nicht von einer Therapie ausgeschlossen wird. Denn es gibt neuerdings durchaus gute medikamentöse Therapieoptionen. Trotzdem darf die konservative Therapie mit Lebensstiländerung nicht vergessen werden und darüber hinaus ist für die Adipositas-Diagnose E66 keine psychotherapeutische Begleitung vorgesehen. Dies alles ist meiner Meinung aber sehr wichtig.
Ein anderes Beispiel wäre die Magen-Bypass-Operation. Die Probleme hören für den Patienten durch die Operation und den damit verbundenen Gewichtsverlust ja nicht auf. Die gesamte Lebenssituation ändert sich: der Lebensstil, die Bewegung, die Ernährung, die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung deiner Umwelt. Probleme durch ein verbessertes Selbstbewusstsein mit Partnern und Angehörigen sind z.B. sehr häufig. Die psychische Nachsorge in Zusammenarbeit mit Ehepartner und Familie ist ein wichtiger Baustein, um den Gewichtsverlust durch die Operation bzw. medikamentöse Therapie auch zu erhalten. Doch einen Termin zur psychotherapeutischen Therapie zu bekommen ist verdammt schwierig.
Das Problem könnte man meiner Meinung nach mit Gruppenschulungen angehen. Viele Menschen mit Adipositas wären in einer Gruppenschulung gut untergebracht und bei einigen kann dann in Einzelschulungen auf individuelle Themen eingegangen werden. Die Selbsthilfe kann hier sicherlich auch unterstützen aber ersetzt keine Therapeuten.
Michael Wirtz:
Adipositas wird immer noch allgemein stigmatisiert und es ist auch eine Selbststigmatisierung bei den Betroffenen zu finden. Gesellschaftlich ist das Verständnis für Adipositas noch zu gering. Wichtig meiner Meinung nach ist es auch, dass die Ärzte akzeptieren, dass Adipositas eine chronische Erkrankung ist. Bei jüngeren Ärzten sehe ich aber schon eher die Akzeptanz. Die Menschen scheuen sich ihre Ärzte auf das Thema anzusprechen. Wichtig ist, dass der Patient weiß: Du hast Adipositas und man kann etwas dagegen tun. Da könnte z.B. das DMP-Adipositas helfen den richtigen Arzt zu finden und die leidige Diskussion beenden warum Menschen mit Adipositas, genau wie bei anderen chronischen Erkrankungen, therapiert werden müssen und nicht erst dann, wenn sie schwer krank sind.
Michael Wirtz:
Im Prinzip kann man in das DMP nur das reinbringen, was im Leistungskatalog steht oder evaluiert und publiziert ist. Ansonsten könnte man Therapieoptionen oder Versorgungsformen mit reinnehmen und gleichzeitig evaluieren. Ich glaube, das wäre ein großer Schritt für alle gewesen. Ich glaube aber auch, dass der Gesetzgeber mit zweieinhalb Jahren einfach zu wenig Zeit gegeben hat, um ein DMP-Adipositas auszugestalten. In der Arbeitsgruppe arbeiten wir themenbezogenen Patientenvertreter sowie die Fachexperten neben unseren Hauptjobs und – das darf man nicht vergessen – wir sind mehr oder weniger bei null angefangen. Darüber hinaus gibt es viele Befindlichkeiten in diesem Thema. Da haben wir beispielsweise die Zahler, die Panik vor 17 Millionen Erkrankten haben. Wir haben die Leistungserbringer, die haben Panik vor 17 Millionen Patienten. Und wir haben die Patientenvertreter, die endlich eine angemessene Versorgung fordern. Jetzt ist die Frage, wer setzt sich durch? Die Patienten sicherlich nicht, da wir lediglich ein Mitberatungs- und Vorschlagsrecht im G-BA besitzen. Am Ende wird im schlimmsten Fall ein Minimalkonsens herauskommen und sicher nicht der große Wurf, außer, dass es endlich realistische Zahlen und eine anständige Diagnostik gibt. Auch wird es neue Erkenntnisse zur Erkrankung und Komorbiditäten geben, die mit aufgenommen wurden. Denn momentan ist die Dunkelziffer von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen Komorbiditäten sehr hoch. Menschen mit Adipositas vermeiden es nämlich zum Arzt zu gehen. Hier wird nach erfasster Kodierung sicherlich schon was auf uns zukommen. Der Gesetzgeber hat als Anforderung gestellt, dass Menschen aufgefangen werden sollen, die in keinem Behandlungsprogramm aktiv eingeschrieben sind. Die Patientenvertretung im G-BA steht auf dem Standpunkt Patienten mit einem BMI > 30 ohne Begleiterkrankungen ins DMP einzuschließen, die anderen Bänke im G-BA sehen dies aktuell anders. Schulungsprogramme, Qualifizierung, Umsetzung und Vergütung sind weitere kontroverse Punkte. Wir werden sehen, was am Ende dabei rauskommt. Und wenn die Richtlinien des G-BA in Kraft getreten sind, hapert es dann an der Umsetzung von den regionalen KVen und Krankenkassen. Immer wieder wird die GKV-Finanzierung vorgeschoben, um nicht zu verhandeln, das ärgert mich schon. Meiner Meinung nach müsste mehr politische Weichen diesbezüglich gestellt werden und von staatlicher Seite müsste mehr Geld ins System fließen.
Michael Wirtz:
Neben der Arbeit als Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland e.V. habe ich beispielsweise einige Selbsthilfegruppen mit aufgebaut. Außerdem bin ich im „Think Tank Herz Kreislauf“ und bei der Herz-Hirn-Allianz aktiv, weil wir am Ende immer wieder beim Thema Adipositas herauskommen. Böse gesagt nutze ich andere Krankheitsbilder, um mein Thema mit einzubringen. Im Moment lerne ich auch viel über Diabetes, da ich jetzt Vorsitzender vom Diabetiker Bund Hamburg bin. Dort haben für das nächste Jahr keinen Diabetiker-Tag mehr, sondern einen Diapositas-Tag. Es hört nicht beim Übergewicht auf: Komorbiditäten müssen auch in den Blick genommen werden. Dazu gehören neben dem metabolischen Syndrom, die nicht alkoholische Fettleber, auch Gelenkprobleme, Nährstoffmangel als Folge der Magenoperationen, Osteoporose, Probleme mit den Zähnen und dem Kieferknochen. Wir haben gerade bei den Frauen des PCS-Syndrom sehr häufig, dazu kommen noch Asthma/COPD und die ganzen Hauterkrankungen, wie z.B. Akne inversa. Und dann später sind viele Krebserkrankungen die schweren Folgen durch das Übergewicht und durch die Adipositas, wahrscheinlich auch bedingt durch die anderen Komorbiditäten. Auch im DMP sind die Komorbiditäten ganz klar als Thema enthalten, als Erläuterung, warum es sinnvoll ist sein Gewicht zu reduzieren.
Michael Wirtz:
Ich halte die digitalen Gesundheitsanwendungen persönlich für eine gute Sache. Ich finde gut, dass sie eine weitere Therapieoption bieten. Sie sind aber nicht für jeden geeignet, aber man ist unabhängig davon, welche Versorgungsstrukturen man vor Ort hat. Laut Studien ist der Erfolg dieser Therapien durchaus mit anderen Therapien vergleichbar. Es ist ein guter Anfang und eine Basis-Schulung erhalten die Patienten dadurch auch. Ich bin eher ein Freund von hybriden Anwendungen. Eine digital gestützte konservative Therapie vor Ort wäre aus meiner Meinung ein idealer Weg. Ja, ich glaube, da kommen wir auch hin, spätestens beim Start des DMP wird es die ersten hybriden Anwendungen geben, in dem dann auch die Schnittstelle zum Arzt da ist, damit alle Behandler, wer auch immer das ist, auf die Daten mit zugreifen können und sehen, wie der Verlauf ist. Das digitale ist auf dem Vormarsch, aber das ist nicht das Allheilmittel. Aber die Kombi macht’s eben. Wir haben es bei Adipositas mit einer multifaktoriellen Erkrankung zu tun, dazu brauchen wir natürlich auch ein breites Behandlungsspektrum.
Michael Wirtz:
Politisch würde ich in erster Linie dafür appellieren, dass wir die Zugänge zu allen Therapieoptionen erleichtern, vor allen Dingen zur medikamentösen Therapie. Ansonsten würde ich mir gesellschaftlich einfach ein bisschen mehr Verständnis für das Thema Adipositas wünschen. Mein größter Wunsch wären regionale Versorgungs-Netzwerke in Kooperation mit Krankenkassen. Und zwar in der Form, dass es regionale Verbünde mit Koordinierungsstellen gibt, die für Adipositas-Patienten sowie für Behandler:innen als Lotsen dienen. Regionale Zusammenarbeit und Austausch in Versorgungsnetzwerken wären meiner Meinung nach der richtige Weg, um das Thema nach oben zu bringen. Ein Beispiel für so ein Versorgungsnetzwerk ist das Adipositas Netzwerk in der Region Hannover. Solche Strukturen werden weiterwachsen, weil ich glaube, dass die Niedergelassenen Angst haben, die Last allein nicht tragen zu können. Aber das müssen sie nicht und das verlangt auch keiner. Am Ende müssen sich alle nur einig sein, wie sie die schlechte Vergütung untereinander austeilen.
Das Interview wurde am 25.07.2023 geführt.
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