“Insbesondere im Hinblick auf die Kostenentwicklung müssen Evidenzlücken durch anwendungsbegleitete Studien vor Markteintritt geschlossen werden.”
Sabrina Jacob
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute spricht Dr. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) mit Sabrina Jacob über das Thema “Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)”
Sabrina Jacob leitet seit dem 1. März 2022 die Landesvertretung der Techniker Krankenkasse in Bremen und seit Dezember 2023 kommissarisch die TK-Landesvertretung Niedersachsen. In ihrer Tätigkeit verantwortet sie neben der gesundheitspolitischen Arbeit die Vertragsbeziehungen zu den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, Krankenhäusern, Pflegediensten und anderen Leistungserbringern. Ein weiterer Schwerpunkt der TK-Landesvertretung ist die landesweite Medienarbeit. Die 43-jährige Krankenkassenbetriebswirtin verfügt über langjährige Erfahrungen in der Gesundheitsbranche. Nach der Ausbildung bei der IKK Bremen und Bremerhaven wechselte sie 2002 zur BKK Airbus. Seit 2005 bei der TK in unterschiedlichen Bereichen beschäftigt, verantwortete sie ab 2012 den Bereich Gesundheitswesen der TK-Landesvertretung in Kiel. 2020 leitete sie das Dialog- und Contentmarketing-Team in der Unternehmenszentrale. | ![]() |
Sabrina Jacob:
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) gehören seit Oktober 2020 zur Gesundheitsversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung und bieten unserer Ansicht nach ein großes Potenzial für unsere Versicherten.
Die Apps auf Rezept sollen zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen, indem sie beispielsweise langfristige Verhaltensänderungen unterstützen oder eine engmaschige Begleitung einer Erkrankung möglich machen. Insbesondere für Menschen mit chronischen Erkrankungen, kann dies zu einer besseren Einhaltung der Therapieziele im Rahmen des Behandlungsprozesses führen.
Darüber hinaus können DiGA die Versorgungssituation künftig mit weiteren Ansätzen verbessern: Sie können Schmerzmedikation zum Beispiel durch regelmäßige Übungen verringern oder Medikationen gänzlich ersetzen, wenn die Anwendung für eine Erkrankung einen nachgewiesenen, vergleichbaren Effekt erzielt. Automatisch erzeugte Fortschrittsberichte einer DiGA oder durch die Nutzerinnen und Nutzer erhobene Daten über den Therapieerfolg ermöglichen auch behandelnden Ärztinnen und Ärzten einfachere Verlaufskontrollen und Bewertungen des Behandlungsfortschritts. Sie bilden somit einen wichtigen Baustein in einer modernen Kommunikation zwischen Arzt bzw. Ärztin und Patient bzw. Patientin. Sie stärken zudem die Gesundheitskompetenz, indem Patientinnen und Patienten selbst über relevante Daten verfügen, sie einsehen und mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin teilen können.
Patientinnen und Patienten können mit Hilfe von DiGA also Krankheiten erkennen, überwachen oder behandeln und bieten zudem ein großes Innovationspotenzial. So richtig angekommen in der Versorgung sind sie jedoch bisher nicht.
Sabrina Jacob:
Apps auf Rezept sind für die Patientinnen und Patienten ein wichtiger Schritt in der Digitalisierung. Bis Ende 2023 wurden 12.128 Freischaltcodes der 957.000 TK-Versicherten in Niedersachsen eingelöst, mit denen sie DiGA nutzen können. Innerhalb der letzten zwölf Monate hat sich bundesweit (11,1 Millionen Versicherte) die absolute Zahl der bei der TK eingelösten Freischaltcodes von rund 76.000 auf 147.000 nahezu verdoppelt. Bei der Ausgestaltung dieses Versorgungsbereichs sehen wir allerdings weiterhin Optimierungsbedarf. Es gelingt nicht allen DiGA-Herstellern den Nutzen für ihre Anwendung nachzuweisen. Im ersten Jahr können DiGA vorläufig zugelassen werden, ohne dass sie ihren therapeutischen Nutzen nachweisen müssen. Dieses schnellere „Fast-Track-Verfahren“ zur Zulassung nutzen inzwischen 80 Prozent der DiGA-Anbieter. Zwei Drittel der bisher erhältlichen Apps konnten ihre Wirksamkeit innerhalb des ersten Jahres jedoch nicht nachweisen. Einigen Herstellern gelang dies auch nicht während der verlängerten Erprobungsphase.
Sabrina Jacob:
Damit DiGA tatsächlich im Versorgungsalltag ankommen, braucht es mehr Informationen zu den Möglichkeiten der Apps auf Rezept für die Patientinnen und Patienten, aber auch für Ärztinnen und Ärzte.
Die TK hat daher gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Vandage und der Universität Bielefeld in diesem Jahr den zweiten DiGA-Report veröffentlicht. Darin ziehen wir ein ausführliches Resümee, inwiefern die Digitalen Gesundheitsanwendungen im Gesundheitssystem angekommen sind und an welchen Stellschrauben noch gedreht werden muss, damit die Apps auf Rezept zukünftig besser in die Versorgung integriert werden können.
Sabrina Jacob:
Wir beobachten, dass die Kosten für DiGA kontinuierlich ansteigen. Während der Durchschnittspreis für eine DiGA im Jahr 2020 noch bei 418 Euro lag, waren es 2023 bereits 628 Euro. Problematisch ist, dass Hersteller im ersten Erstattungsjahr die Preise frei festlegen können. Dies führt dazu, dass die Versichertengemeinschaft für Anwendungen zahlt, deren Nutzen nicht ausreichend nachgewiesen ist. Zwar können die Kassen zurückfordern, was überhöht gezahlt wurde, jedoch bleiben sie im Falle von Insolvenzen auf einem Teil der Rückforderungen sitzen. Allein die offenen Rückzahlungen aufgrund von Insolvenzen belaufen sich mittlerweile auf 2,6 Millionen Euro zulasten der TK.
Sabrina Jacob:
Insbesondere im Hinblick auf die Kostenentwicklung müssen Evidenzlücken durch anwendungsbegleitete Studien vor Markteintritt geschlossen werden. Nur so ist es auch möglich, den tatsächlichen Preis einer DiGA abschätzen zu können. Der Preis kann an die Erkenntnisse der Studienergebnisse gekoppelt werden und die Hersteller können bei höherer Evidenz auch einen höheren Preis veranschlagen.
Beim Studiendesign sollte die Anzahl der DiGA-Nutzerinnen und -nutzer ausreichend hoch sein, da zu niedrige Zahlen die Aussagekraft der Studienergebnisse einschränken. Es ist daher wichtig, dass die Anbieter in regelmäßigen Abständen neue Studiendaten vorlegen, um ein konstantes Qualitätsmonitoring der DiGA zu gewährleisten.
Sabrina Jacob:
Dadurch, dass die DiGA-Hersteller ihren Preis im ersten Jahr frei festsetzen können, zeigen sich Preisspannen zwischen 119 bis 2.077,40 Euro für einen Anwendungszeitraum von (in der Regel) 90 Tagen. Durch die steigenden Herstellerpreise entsteht ein Kostenrisiko für die Gesetzlichen Krankenversicherungen und die Beitragszahlenden. Angesichts dessen muss die Preisgestaltung überarbeitet werden. Unserer Ansicht nach müssen sich die DIGA-Preise an den Preisen analoger Therapien orientieren und dann abhängig davon, ob ein Nutzennachweis vorliegt, Zu- und Abschläge gewähren. Nach Ablauf eines Jahres sollte es vorläufige Preise geben, die sich an den verhandelten Preisen orientieren, um erhöhte Rückzahlungsansprüche und finanziellen Schaden der GKV zu vermeiden.
Sabrina Jacob:
Es gibt zwei Wege, um eine DiGA nutzen zu können: Entweder über eine ärztliche Verordnung oder durch eine Anfrage direkt bei der TK. Etwa 80 Prozent der Verordnungen erfolgen über den behandelnden Arzt beziehungsweise die behandelnde Ärztin und 20 Prozent durch eine Anfrage der Versicherten bei der Kasse.
Sabrina Jacob:
Nein, wir erhalten zudem nicht einmal Kenntnis darüber, ob die Patientinnen und Patienten die verschriebenen Apps überhaupt regelmäßig nutzen oder nur einmalig aufrufen. Uns als Krankenkasse entstehen immer die vollen Kosten der DiGA. Es ist eine regulatorische Anpassung erforderlich, dass die tatsächliche Nutzung von den DIGA-Herstellern nachgewiesen werden muss. Die Versichertengemeinschaft sollte nur für Anwendungen zahlen, die auch tatsächlich von Patientinnen und Patienten genutzt wurden.
Das Interview wurde am 23.08.2024 geführt.
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