Interview mit Prof’in. Dr. Martina de Zwaan: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

Interview mit Prof’in. Dr. Martina de Zwaan: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

“Der Blick auf Menschen mit Adipositas muss sich ändern, Schuldzuweisungen bringen nichts und sind auch fehl am Platz.”

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan

Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.

Heute spricht Kerstin Zuege (Novo Nordisk Pharma GmbH) mit Prof’in. Dr. Martina de Zwaan über das Thema “Versorgungslücke in der Adipositas-Versorgung?”

Prof’in. Dr. med. Martina de Zwaan ist seit 2011 Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie hat in Wien Medizin studiert ist und die Facharztweiterbildungen für Psychosomatik und für Psychiatrie absolviert. Sie hat eine Weiterbildung in kognitiver und Verhaltenstherapie. Sie hat sich im Rahmen von 2 Forschungsaufenthalten in den USA wissenschaftlich vor allem mit Essstörungen und Adipositas beschäftigt. Sie war Gründungsmitglied und erste Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS) und ist past Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). Aktuell ist sie mitverantwortlich für Revision der Leitlinie zu „Diagnostik und Therapie der Adipositas“.

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Behandlung von jüngeren und älteren Patienten mit Adipositas gemacht?

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:

In der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) gibt es die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA), die sich mit der Adipositas-Thematik bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Es ist wichtig, schon sehr früh mit Präventions- und Behandlungsmaßnahmen zu beginnen. Es ist lange bekannt, dass dicke Kinder zu dicken Erwachsenen werden. Dies gilt es zu durchbrechen, denn man weiß auch, dass sehr stark übergewichtige Kinder und Jugendliche später nicht nur gesundheitliche Probleme bekommen, sondern auch immense Nachteile in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft erfahren. Hier wächst eine sogenannte „lost Generation“ heran, um die wir uns besonders kümmern und das ganze Sozialsystem mit in die Therapie einbeziehen müssen. Hier nützt es nichts, nur Anhörungsunterricht in Schulen oder Kindergärten zu machen, wenn die Eltern das nicht mittragen. Alle müssen mitgenommen werden. Auch im DMP-Entwurf kommen diese jungen Patienten noch nicht vor, hierzu gibt es zwar Gespräche aber angekommen ist die Problematik noch lange nicht.

Mit älteren Patienten, die schon länger unter Adipositas leiden ist es schwieriger, da meist schon zahlreihe Komorbiditäten vorliegen. Diese Gruppe hat einen hohen Leidensdruck auf Grund ihrer Multimorbidität und verursacht dadurch auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Umso wichtiger ist es Menschen mit Adipositas frühzeitig zu behandeln.

Welche Hindernisse sehen Sie in der Versorgung von Menschen mit Adipositas?

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:

Eine leiliniengerechte und bedarfsorientierte Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Adipositas existiert derzeit in Deutschland nicht. Aktuell erhält nur ein Bruchteil der Betroffenen eine Versorgung gemäß medizinisch-wissenschaftlicher Leitlinien und das, obwohl Adipositas schon lange als chronische Erkrankung anerkannt ist. Gerade sozial schwache Schichten mit geringerem Gesundheitsbewusstsein und Gesundheits-kompetenz werden nicht oder nur schwer erreicht. Essen hat für viele eine große Bedeutung, nicht nur um satt zu werden, sondern auch für das soziale Miteinander oder zur Regulation negativer Emotionen. Diese verhaltensbezogenen Faktoren sind sowohl im Kontext soziokultureller Rahmenbedingungen als auch auf dem Hintergrund der individuellen Sozialisation (individuelle Lerngeschichte) zu verstehen. Diese Faktoren können große Hürden für eine Gewichtsabnahme darstellen. Diese Hindernisse müssen auch durch Verhältnisprävention abgebaut werden. Politische Maßnahmen wie Zucker- und Fettreduktionsstrategien bei Lebensmitteln sind gefordert. Die Einführung des Nutri-Scores war ein erster Schritt, der allerdings ausgebaut werden muss. Vergleiche innerhalb von Produktgruppen, also welche Pizza hat im Vergleich zur anderen einen besseren Score hat, sind zum Teil irreführend. Ein Werbeverbot für Lebensmittel das speziell auf Kinder abzielt wäre zum Beispiel auch wünschenswert. Die Lebensmittelindustrie ist mächtig und es ist schwer hier etwas zu bewegen, die Politik setzt hier zu sehr auf Eigenverantwortung bei Konsumenten und Industrie.

Wird Adipositas in Ihren Augen mittlerweile von den Beteiligten im Gesundheitssystem und der Gesellschaft als Krankheit anerkannt?

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:

Meines Erachtens ist Adipositas weder in der Politik noch bei Ärztinnen und Ärzten noch in der Gesellschaft als Krankheit ausreichend angekommen.

Der Blick auf Menschen mit Adipositas muss sich ändern, Schuldzuweisungen bringen nichts und sind auch fehl am Platz. Je höher der BMI, desto schwieriger ist es für die Betroffenen, ein gesundes Körpergewicht zu erreichen und dieses auch dauerhaft zu halten Multiple Faktoren wie adipogene Lebens- und Umweltbedingungen, genetische Veranlagung, neuroendokrine Prozesse und auch psychische Faktoren beeinflussen das Gewicht. Selbst bei Behandlern fehlt zum Teil die Akzeptanz und die Frustration ist groß, denn bislang fehlt hierfür oftmals das Handwerkszeug. Patienten zu einem anderen Lebensstil zu bewegen ist auch müßig. Die naive Vorstellung, dass hier ein paar Beratungstermine ausreichen um nachhaltige Erfolge zu erzielen ist leider noch weit verbreitet. Aber wenn das Thema immer mehr in den Fokus rückt wird sich hoffentlich auch die Einstellung zur Adipositas und deren Behandlung langsam ändern. Auch Ärztinnen und Ärzte müssen aus diesem frustrierten Nichtstun herausgeholt werden und als Therapeuten motivieren und auch Rückfälle anerkennen. Durch mehr Unterstützung und Finanzierung der Behandlung von Adipositas, mit Behandlungsstrategien und neuen Medikamenten bekommen Ärztinnen und Ärzte hoffentlich wieder eine neue Perspektive. Wichtig ist es, auch Rückschläge in der Behandlung als normal zu akzeptieren, denn es gibt immer Situationen im Leben, die von der Einhaltung von Therapien ablenken.

Dazu hat die DAG gemeinsam mit der DDG, aus aktuellem Anlass, eine Weiterbildung entwickelt. Denn wir hoffen, dass die Richtlinie zum DMP Adipositas noch in diesem Jahr finalisiert wird. Mit der Weiterbildungsmaßnahme sollen Arztinnen und Ärzte motiviert und mit Wissen über alle Therapie-Bausteine wie Ernährung, Bewegung, Psychologie und medikamentöse Therapie ausgestattet werden, um Patienten effektiv zu behandeln. Der erste Kurs zum Adiposiologen bzw. zur Adiposiologin startet im Herbst in Hamburg und ich würde mich freuen, auch in Hannover zeitnah einen Kurs anbieten zu können.

Sie sprachen gerade schon die Richtlinie für das Disease Management Programm an. Wird dieser Schritt eine Trendwende in der Versorgung der Adipositas einläuten?

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:

Das ist schwer abzuschätzen, ich habe große Sorge, dass das DMP Adipositas das gleiche Schicksal erleidet wie einige andere DMPs vorher auch schon, es nicht umgesetzt wird und ein Papiertiger bleibt. Ich hoffe, dass es irgendwann ein Erfolgsmodell wird, so wie das DMP Diabetes. Dann hätten wir auch endlich mehr Einblick, Daten und Zahlen zu Adipositas und auch zu den Komorbiditäten. Der Weg dahin ist steinig und die inhaltliche Ausgestaltung mit all den Bausteinen für eine ideale Adipositastherapie geht leider schleppend voran.

Sind Ihnen Versorgungsstrukturen bekannt und oder engagieren Sie sich bereits in irgendwelchen Strukturen oder Projekten?

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:

Was ich als Österreicherin interessant finde ist, dass es viele einzelne hochengagierte Projekte gibt, die sich unendlich bemühen Versorgungsstrukturen zu verbessern. Ein solches Engagement von unterschiedlichen Berufsgruppen ist für mich ein deutsches Phänomen. Es gibt und gab auch immer wieder Projekte, die über unterschiedliche Geldgeber gefördert wurden, zum Beispiel ACHT als Nachsorgeprogramm zur strukturierten, sektorenübergreifenden Versorgung nach bariatrisch-metabolischer Operationen, durch den Innovationsfonds. Auch lokale Aktivitäten wurden auf Grund des hohen Bedarfs entwickelt, wie früher in der MHH das intensive Adipositas-Programm „Leichter durchs Leben“ zusammen mit Kollegeninnen und Kollegen aus den Bereichen Ernährung, Bewegung und mit psychologischer Betreuung. Ein anderes Beispiel ist DOC WEIGHT® als anerkanntes und zumindest anteilig finanziertes Schulungsprogramm zur Therapie der höhergradigen Adipositas (BMI > 35). Das ist alles gut gemeint, aber diese isolierten Maßnahmen reichen leider nicht aus. In der Region Hannover haben wir es zumindest schon mal geschafft alle Beteiligten aus dem Gesundheitssystem in einem Adipositas Netzwerk an einen Tisch zu bringen.

Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, wie würden Ihre Wünsche zu den Rahmenbedingungen der Behandlung und Versorgung vorn adipösen Menschen aussehen und welche Wünsche hätten Sie an die Politik?

Prof’in. Dr. Martina de Zwaan:

Was mir vorschwebt ist ein interdisziplinäres Netzwerk mit allen Stakeholdern. Ein enges klares Therapieangebot, am besten unter einem Dach, Hand in Hand zusammenarbeitend. Hier würden Patientinnen und Patienten bei der Behandlung auch über die unterschiedlichen Disziplinen hinaus nicht verloren gehen, sich besser betreut und mitgenommen fühlen.

Wir brauchen einen Plan, wie die aktuell mangelhafte Vernetzung einzelner Leistungserbringer verbessert werden soll. Einzelne Therapiebausteine in Isolation anzubieten widerspricht dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung nach Interdisziplinarität und Vernetzung und würde dem komplexen Krankheitsbild Adipositas nicht gerecht werden. Wie sollen die Leitungserbringer miteinander kommunizieren, um Informationsverlust zu vermeiden, die Therapiebausteine aufeinander abzustimmen und den optimalen Therapieplan für die Patienten zu erstellen.

Die Politik sollte bei der Prävention forscher vorangehen und Ansätze wie die zur Schulverpflegung und flächendeckenden DGE-Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) konsequenter ausweiten. Was ich mir auch wünsche ist, mehr Mut und verpflichtende Umsetzung der DMPs.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass sich das Bewusstsein für Adipositas zunehmend durchsetzt und immer mehr Menschen es als Krankheit anerkennen, beziehungsweise zumindest akzeptieren. Das Wissen, dass Erkrankte nicht allein dafür verantwortlich sind und es nicht einfach ist Gewicht zu verlieren und dauerhaft zu halten setzt sich zunehmend durch. Adipositas ist eine chronische Erkrankung, das bedeutet, sie ist nicht heilbar, aber mit einer lebenslangen Therapie kontrollierbar. Immer mehr Menschen erkennen, dass die Verantwortung nicht allein bei den Menschen mit Adipositas selbst gesehen werden kann. Ob sie es dann als chronische Erkrankung anerkennen oder nicht ist mir da nicht mehr so wichtig, Die Erkenntnis, dass Menschen langdauernde Unterstützung brauchen, wiegt da viel schwerer.

Das Interview wurde am 01.08.2023 geführt.

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