“Viele Ärztinnen und Ärzte wünschen sich eine kompakte, gut auffindbare Darstellung der Evidenzlage, bevor sie sich für eine Verordnung entscheiden.”
Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.
Heute spricht Dr. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) und Bert Kloth (Bayer Vital GmbH) mit Marisa Kaup über das Thema “Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)”
Marisa Kaup ist Gesundheitsökonomin und leitet bei Oviva, Europas führendem Anbieter für digitale Therapien bei Adipositas und chronischen Erkrankungen, den Bereich Market Access & Public Affairs. Dort verantwortet sie die Erstattungsfähigkeit von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) unter Berücksichtigung von Evidenz, Datenschutz, Interoperabilität und regulatorischen Anforderungen. Ziel ihrer Arbeit ist es, Patientinnen und Patienten mit Adipositas, Diabetes oder Bluthochdruck einen Zugang zu digitalen, leitliniengerechten Therapien zu ermöglichen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in der Gesundheitsindustrie. Von 2016 bis 2019 war sie bei AbbVie im Bereich der Hämatoonkologie tätig, anschließend bis 2022 bei Bayer im Bereich der Kardiologie. Bei Oviva steuert sie heute die DiGA-Pipeline, entwickelt Markteintrittsstrategien und bringt gesundheitspolitische Themen im engen Austausch mit der Ärzteschaft, Fachgesellschaften, Krankenkassen und der Politik voran. Darüber hinaus engagiert sie sich im Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV), wo sie insbesondere das Thema europäische Harmonisierung von Rahmenbedingungen und Prozessen für digitale Therapien vorantreibt. | ![]() |
Marisa Kaup:
Oviva verfolgt das Ziel, die Adipositas-Therapie effektiver und zugleich breiter zugänglich zu machen. Aus unserer Sicht bieten die regulatorischen Rahmenbedingungen für DiGA, insbesondere in Deutschland, eine sehr gute Grundlage dafür. Dass dieses Versorgungsmodell funktioniert, zeigt sich unter anderem daran, dass wir im Jahr 2024 mit „Oviva Direkt für Adipositas“ bereits mehr als 100.000 Menschen erreicht haben.
Diese Zahl verdeutlicht, dass Patientinnen und Patienten heute Zugang zu einer wirksamen Therapie erhalten, wo zuvor eine erhebliche Versorgungslücke bestand. Das betrifft nicht nur die Adipositas-Therapie, sondern auch viele andere typische DiGA-Indikationen, zum Beispiel im Bereich der psychischen Gesundheit. Digitale Gesundheitsanwendungen haben das Potenzial, solche Lücken gezielt zu schließen. Gleichzeitig ermöglichen es die regulatorischen Strukturen, neue Versorgungsmodelle flexibel zu entwickeln und umzusetzen.
Marisa Kaup:
Fünf Jahre nach Einführung von DiGA in Deutschland stellen wir fest, dass sich das Bewusstsein und die Akzeptanz für digitale Anwendungen auf allen Seiten verbessert hat. Immer mehr Patientinnen und Patienten fragen aktiv nach einer DiGA, und auch Ärztinnen und Ärzte sind mit dem Konzept zunehmend vertraut. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Praxen, die bereits eine DiGA verordnet haben, künftig häufiger auch andere Anwendungen verschreiben. Dieses gewachsene Vertrauen ist eine wichtige Voraussetzung für eine flächendeckende Nutzung.
Verbesserungsbedarf gibt es weiterhin bei der technischen Integration in die ärztlichen Praxisprozesse. Die zunehmende Digitalisierung und die Telematikinfrastruktur mit der elektronischen Patientenakte (ePA), als Fundament des Ganzen, bieten hier große Chancen. Wir investieren derzeit intensiv in technische Schnittstellen, um der Ärzteschaft bei Einwilligung durch die Patienten Informationen aus der DiGA bereitzustellen. In einem nächsten Schritt könnten auch Informationen wie Medikationspläne, die bereits in der ePA vorhanden sind, direkt in die DiGA geleitet werden. So sparen sich die Versicherten den doppelten Erfassungsaufwand und die DiGA kann medizinisch relevante Informationen in die Therapie integrieren. Eine bessere Interoperabilität zwischen den Systemen kann hier zu mehr Effizienz und Akzeptanz beitragen.
Marisa Kaup:
Wie viele DiGA-Hersteller engagieren wir uns in klassischen Fortbildungsformaten – zum Beispiel bei Kongressen, in zertifizierten CME-Veranstaltungen oder durch Webinare. Die meisten Hersteller verfügen zudem über einen eigenen Außendienst oder arbeiten mit Pharmaunternehmen zusammen, um Ärztinnen und Ärzte gezielt zu informieren. All das sind wichtige Maßnahmen, die aber auch erhebliche Ressourcen binden und für kleinere Anbieter nicht immer im gleichen Umfang umsetzbar sind.
Darüber hinaus stellen wir fest, dass die Informationslage rund um DiGA nach wie vor uneinheitlich ist. Es ist sehr unterschiedlich, wie etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen oder die Krankenkassen auf ihren Websites über den Zugang und die Abrechnung informieren. In vielen Fällen sind Hersteller auf sich allein gestellt, wenn es um die Aufklärung von Leistungserbringenden oder Versicherten geht. Gleichzeitig beobachten wir, dass viele Patientinnen und Patienten nicht wissen, wie sie mit einer DiGA-Verordnung umgehen sollen. Während der Weg zur Apotheke mit einem klassischen Arzneimittelrezept allen vertraut ist, fehlt bei DiGA häufig die Orientierung. Wir versuchen, da aufzuklären und bestmöglichen Support zu bieten.
Marisa Kaup:
Die größte Hürde besteht nach wie vor im Zugang selbst. Wenn sich eine versicherte Person dazu entscheidet, ihre Gesundheit aktiv zu verbessern – sei es durch Gewichtsreduktion, Burn-Out-Therapie oder bessere Diabeteskontrolle – dauert es im Durchschnitt 13 Tage von der Verordnung bis zur tatsächlichen Nutzung der DiGA.
Im Vergleich zu einem klassischen Medikament, das direkt nach dem Arztbesuch in der Apotheke abgeholt werden kann, ist das ein deutlicher Nachteil. Die Prozesse sind bislang zu papierbasiert, zu komplex und nicht ausreichend digitalisiert. Derzeit wird an der Einführung eines elektronischen Rezepts für DiGA gearbeitet. Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt. Damit DiGA im Versorgungsalltag noch besser ankommen, muss der Zugang einfacher, schneller und digitaler werden.
Marisa Kaup:
Für unsere gelistete DiGA wie auch für neue Anwendungen, die wir planen, führen wir in der Regel randomisierte, kontrollierte Studien durch – aktuell laufen allein für Deutschland drei parallel. Diese Studiendesigns als Goldstandard sind auch in anderen medizinischen Bereichen etabliert. Die Anforderungen an die Studienqualität sind hoch. Das BfArM stellt sicher, dass nur solche Produkte gelistet werden, deren Nutzen auf fundierter Evidenz basiert.
Trotzdem hören wir aus der Ärzteschaft häufig den Wunsch nach mehr Transparenz. Im DiGA-Verzeichnis ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, auf welchen Studienergebnissen eine Anwendung basiert. Auch die Praxisverwaltungssysteme bieten derzeit nur eingeschränkten Zugang zu diesen Informationen. Viele Ärztinnen und Ärzte wünschen sich eine kompakte, gut auffindbare Darstellung der Evidenzlage, bevor sie sich für eine Verordnung entscheiden.
Oviva geht über die regulatorischen Mindestanforderungen hinaus und führt zusätzliche Studien durch – auch nach der Listung. Unsere neuesten Ergebnisse wurden zuletzt auf den europäischen Kongressen für Hypertonie und Adipositas präsentiert. Für uns ist es entscheidend, die Wirkung kontinuierlich zu überprüfen und die Anwendung auf dieser Basis weiterzuentwickeln.
Marisa Kaup:
Die öffentliche Wahrnehmung von DiGA-Preisen ist häufig von Vergleichen mit frei verfügbaren Consumer-Apps geprägt. Dabei wird übersehen, dass DiGA-Hersteller ihre Anwendungen nicht über Nutzerdaten monetarisieren, sondern in Forschung, klinische Studien und kontinuierliche Produktentwicklung investieren – vergleichbar mit pharmazeutischen oder medizintechnischen Unternehmen.
Unsere Anwendung wird regelmäßig aktualisiert. Alle zwei bis vier Wochen erscheint ein neuer Release, der auf Nutzerfeedback oder ärztliche Rückmeldungen eingeht. Hinzu kommen hohe Investitionen in Datenschutz und IT-Sicherheit. Allein für ein neues BSI-Datensicherheitszertifikat entstehen für jeden Hersteller Kosten in Millionenhöhe.
Marisa Kaup:
Ja, wir analysieren regelmäßig öffentliches Nutzerfeedback, etwa aus App-Bewertungen, und werten zusätzlich die Rückmeldungen derjenigen Nutzerinnen und Nutzer aus, die einer Datennutzung zur Weiterentwicklung explizit zugestimmt haben. Auf dieser Basis untersuchen wir, welche App-Elemente besonders hilfreich sind.
Ein Beispiel zu Oviva ist das Mahlzeiten-Logging. Wir sehen, dass Nutzerinnen und Nutzer, die diese Funktion regelmäßig verwenden, mit höherer Wahrscheinlichkeit einen relevanten Gewichtsverlust erzielen. Das hilft uns dabei, gezielt in jene Bereiche der Anwendung zu investieren, die nachweislich wirken.
Marisa Kaup:
Wir begrüßen sehr, dass sich das klare politische Bekenntnis zur Weiterentwicklung des DiGA-Konzepts auch im aktuellen Koalitionsvertrag wiederfindet. Unser zentraler Wunsch ist es, digitale Gesundheitsanwendungen konsequent in die Praxisprozesse zu integrieren. Dazu gehören zuverlässige Schnittstellen, verständliche Informationsangebote für Leistungserbringende und eine angemessene ärztliche Vergütung. Nur wenn diese strukturellen Voraussetzungen geschaffen sind, kann digitale Versorgung ihr volles Potenzial entfalten. Mit den Plänen der Regierung zur Entbürokratisierung sehen wir außerdem eine Chance, dass die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Behörden entschlackt und beschleunigt wird – damit der DiGA-Fast-Track nicht zum “Slow-Track” wird.
Das Interview wurde am 11.04.2025 geführt.
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