Interview mit Heike Sander: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

Interview mit Heike Sander: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

“Für Niedersachsen wünsche ich mir konkret, dass die Vorschläge der Enquetekommission des niedersächsischen Landtages umgesetzt werden.”

Heike Sander

Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.

Heute sprechen Dr. Christiane Look (AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG) und Katarzyna Ostendorf (MSD Sharp & Dome GmbH) mit Heike Sander über das Thema “Klinikversorgung nach Corona – Wie geht es weiter?”

Heike Sander ist Krankenkassenbetriebswirtin und Landesgeschäftsführerin der BARMER in der Landesvertretung Niedersachsen/Bremen. Sie ist seit über 40 Jahren in verschiedenen Krankenkassensystemen, Bundesländern und Aufgabenstellungen in der gesetzlichen Krankenversicherung aktiv.

Welche Strukturen haben sich in der Klinikversorgung durch die COVID-19-Pandemie geändert und werden sich aus Ihrer Sicht noch ändern?

Heike Sander:

Ein Virus hat uns aufgezeigt, was in den letzten Jahren versäumt wurde, aber auch, was bei uns gut funktioniert. Es hat digitale Notwendigkeiten, wie z. B. das DIVI-Register, in dem die belegten Intensivbetten sichtbar werden, zu einer flächendeckenden Anwendung für mehr Transparenz werden lassen.


Die schnelle Entwicklung und Verbreitung des DIVI-Intensivregisters hat gezeigt, dass so etwas auch in Deutschland in der Not funktionieren kann. Es hat aber auch gezeigt, dass eine solide transparente Datenbasis Grundlage für die Planung einer qualitätsorientierten Versorgungsstruktur sein muss. Wir sind für eine solide Versorgungsplanung auf die konsequente Nutzung von vorhandenen Daten aller Beteiligten angewiesen, um die notwendigen Kapazitäten an der richtigen Stelle für die Patientinnen und Patienten vorzuhalten und das gilt sektorenübergreifend.


Die Krise hat aber auch an vielen Stellen im stationären Bereich gezeigt, dass das Pflegepersonal an der Grenze der Überlastung ist. Dies ist vor dem Hintergrund, dass in Deutschland neben Luxemburg und Irland das meiste Pflegepersonal pro 100.000 Einwohner in Europa beschäftigt wird, unverständlich. Die Ursache für den gefühlten Personalmangel liegt in zu vielen stationären Behandlungsfällen, die eigentlich ambulant erfolgen könnten, und Pflegepersonal an der falschen Stelle binden. Wir müssen eine neue Vorhaltestruktur entwickeln, die auch mit der begrenzten Ressource Personal zielgerichteter und wertschätzender umgeht.

Wird sich die Krankenhausanzahl in Niedersachsen verändern?

Heike Sander:

Die Zahl der Krankenhäuser reduziert sich auch in Niedersachsen seit Jahren und dieser Prozess wird weitergehen. Die moderne Medizin benötigt nicht mehr die längeren Verweildauern im Krankenhaus und vieles, dass heute noch in Deutschland stationär gemacht wird, erfolgt in anderen Ländern im ambulanten Bereich.


Auch in der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig die ambulante wohnortnahe Primär-Versorgung ist und durch wen die stationäre Versorgung erbracht wurde. Nach Auswertung der BARMER haben nur 70 % der Krankenhäuser die Behandlung der stationären COVID-19-Fälle gemacht und nur 30 % der Häuser hatten bis Januar 2021 mehr als 50 Corona-Patientinnen und -Patienten.


Die begrenzten finanziellen Mittel der Länder verteilen sich auf zu viele Krankenhäuser. Daneben fehlt das qualifizierte Personal für die Hochleistungsmedizin. Darunter leiden Qualität und Wirtschaftlichkeit.
Die Qualität der Leistungserbringung hängt bei bestimmten Krankheitsbildern nachweislich von Routine und Erfahrung ab. Mindestmengen bei Operationen erhöhen die Qualität. Diese Erkenntnisse haben Wissenschaftler und auch der Sachverständigenrat (SVR) im Gesundheitswesen seit Jahren belegt. Aus diesem Grund sollten gerade seltene und schwere Erkrankungen an ausgewählten Standorten konzentriert werden. Die Spezialisierung von Krankenhäusern auf bestimmte Eingriffe ist für die Patientensicherheit und den Erfolg der Behandlung alternativlos. Kompetenzzentren könnten – beispielsweise im Bereich der Onkologie oder der Rheumatologie – auch sektorenübergreifend eine stärkere Koordination der Versorgung übernehmen.

Wie ist die Versorgung derzeit organisiert und wie sieht sie zukünftig aus?

Heike Sander:

Die Gutachten des SVR machen hierzu seit Jahren Vorschläge für eine geänderte Organisations- und Versorgungsstruktur. Die BARMER hat in ihrem 10-Punkte-Papier die wesentlichen Aspekte übersichtlich dargestellt. Sie sind im Internet abrufbar.


Ich möchte an dieser Stelle nur sagen, dass sich die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen unter den Akteuren deutlich verändern muss. Der Patient, die Patientin darf gar nicht merken, dass sie einen Sektor verlässt und einen anderen betritt.

Wird sich durch die COVID-19-Pandemie die Kommunikation zwischen der stationären und ambulanten Versorgung bzw. zwischen den Gesundheitsämtern und der Meldestelle (RKI) ändern?

Heike Sander:

Dies ist eher eine Frage an politische Akteure/ÖGD (Anmerkung der Redaktion: Öffentlicher Gesundheitsdienst), wodurch es schwerfällt sich als Kasse zu positionieren. In einem Richtungspapier zu mittel- und langfristigen Lehren aus der Corona-Krise hat das BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung hierzu nach der ersten Welle eine Zwischenbilanz gezogen. Hierin wurde u. a. bestätigt, dass der ÖGD eine bessere Ausstattung, aber auch eine bessere Verknüpfung zu Wissenschaft und Primärversorgung benötigt.

Wie hat sich die Digitalisierung entwickelt und wird sie sich zukünftig weiter etablieren?

Heike Sander:

Die Digitalisierung ist längst im Alltag der Menschen angekommen und aus den meisten Lebensbereichen nicht mehr wegzudenken. Ihre Bedeutung wird auch weiterhin zunehmen. Besonders das mobile Internet hat die Art der Kommunikation, den Zugang zu Informationen und den Umgang mit persönlichen Daten erheblich verändert. Treiber wie Corona beschleunigen dabei diese Entwicklung.


Auch die Produkte einer gesetzlichen Krankenkasse haben sich stark verändert. Es gibt APPs für Gesundheitsanwendungen auf Rezept. Der Kontakt zur Krankenkasse läuft immer häufiger über Onlinemedien wie Video oder die BARMER APP. Die Versicherten bei der BARMER in den bundesweit 400 Geschäftsstellen werden immer weniger. Über 70 % der Kontakte erfolgen telefonisch. Seit Anfang des Jahres gibt es eine elektronische Patientenakte, die mit mehr Transparenz die Zusammenarbeit zwischen den Sektoren verbessern wird und die Krankengeschichte insbesondere von Chronikern transparent und sicher an jedem Ort zur Verfügung stellt.


Die Beteiligten im Gesundheitswesen müssen die Chancen der Digitalisierung etwa für die Verbesserung der Diagnostik und Therapie in der Medizin nutzen und die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen. Dabei ist es wichtig, dass der Schutz der Daten gewährleistet wird und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Versicherten gewahrt bleibt.


In Zukunft wird unter anderem der Telemedizin eine noch wichtigere Rolle in der Versorgung zukommen. Es war daher richtig, die ersten telemedizinischen Anwendungen in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab aufzunehmen und damit in die Regelversorgung zu bringen. Telemedizin darf dabei nicht an die Stelle einer möglichst flächendeckenden Versorgung treten. Aber für die Sicherstellung einer hochwertigen Versorgung bietet die Telemedizin ein großes Potenzial. Um dieses Potenzial für die Versicherten nutzbar zu machen, ist es zum Beispiel richtig, dass das generelle Verbot für Behandlungen ohne vorherigen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aufgehoben wird.


Aber auch die gegenseitige Beratung der Gesundheitsberufe untereinander wird sich verbessern. Hier sei beispielhaft erwähnt, dass die Hochleistungsmedizin der MHH (Anmerkung der Redaktion: Medizinische Hochschule Hannover) Behandler in anderen Krankenhäusern unterstützen kann oder auch über DIGAs (Anmerkung der Redaktion: Digitale Gesundheitsanwendung) wie im onkologischen Bereich der Arzt-Patienten-Kontakt verbessert wird.


Es gilt aber der Grundsatz, dass die Digitalisierung nur ein Hilfsmittel sein kann, es sollte die Behandlung stärker unterstützen und qualitativ besser und schneller machen.

Welchen Einfluss hatte bzw. wird die COVID-19-Pandemie auf die Finanzierung der Kliniken haben?

Heike Sander:

Vor dem Hintergrund der noch immer angespannten Lage bei der Versorgung von COVID-19-Patienten in den Krankenhäusern, bei gleichzeitig sinkenden Neuinfektionszahlen, wird derzeit kontrovers diskutiert, in welcher Form und welchem Umfang weiter Liquiditätshilfen an die Krankenhäuser gewährt werden sollen.
Es ist sinnvoll, die Liquiditätshilfen für die Zeit der Pandemie weiterzuführen. Notwendig sind dabei aber zielgerichtete Finanzhilfen an die Krankenhäuser, die sich nach der tatsächlichen Betroffenheit bei der Versorgung von COVID-19-Patienten richten. In der ersten Welle haben insbesondere die psychotherapeutischen und psychiatrischen Kliniken durch die Freihaltepauschale eine Umsatzsteigerung zum Vorjahr von fast 15 % profitiert. Während andere insbesondere große besser ausgestattete Kliniken unterfinanziert waren. In der zweiten Welle erfolgte die Verteilung der Mittel des Bundes mehr nach tatsächlichem Aufwand.


Zukünftig müssen Grundlage für zusätzliche Mittel quartalsweise bzw. monatliche Datenauswertungen zum Leistungsgeschehen in den Jahren 2020 und 2021 sein. Diese Auswertungen sollten für die Dauer der Pandemie monatlich fortgeführt werden, um die Betroffenheit der Krankenhäuser an konkreten Zahlen zu belegen. Ebenso müssen die Länder Aufstellungen zu den pro Krankenhaus geleisteten Ausgleichszahlungen sowie zu den geförderten zusätzlichen Intensivbetten im Jahr 2020 zur Verfügung stellen.


Die Finanzierung von Corona-bedingten Mehrkosten wird bereits seit Beginn der Pandemie in Form von pauschalen Zuschlägen je voll- und teilstationären Behandlungsfall durch die Kassen sichergestellt, die künftig durch krankenhausindividuelle Zuschläge ersetzt werden sollen. Sinnvoll wäre weiterhin eine pauschale Finanzierungsregelung mit eindeutig definierten Finanzierungstatbeständen, die sich auf die Finanzierung persönlicher Schutzausrüstung sowie auf die erhöhten Anforderungen an die Hygiene begrenzen.

Welche Wünsche hätten Sie an die Politik?

Heike Sander:

Ein wesentliches Strukturdefizit des deutschen Gesundheitssystems besteht in der diskontinuierlichen Versorgung an den Grenzen der Sektoren. Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche unternommen, diese Grenzen zu öffnen. Doch die Einführung einer Vielzahl nicht aufeinander abgestimmter Regelungen hat nicht zur Lösung des grundlegenden Problems geführt. Anstatt die Versorgung systemweit zu optimieren, werden weiterhin nur partikulare, den Sektorenlogiken folgende Einzelmaßnahmen verfolgt. Notwendig ist eine sektorenübergreifende und am Patientennutzen ausgerichtete Versorgung.


Grundlage für eine sektorenübergreifende Versorgung ist die Abkehr von der getrennten Planung ambulanter und stationärer Leistungen in zwei nebeneinander organisierten Sektoren. Im Fokus der neuen sektorenübergreifenden Versorgungsplanung stehen dabei fachärztliche Leistungen an der Schnittstelle zwischen allgemeiner fachärztlicher ambulanter Versorgung sowie der Grund- und Regelversorgung im Krankenhaus.


Ich wünsche mir, dass wir vor dem Hintergrund der Pandemie weitere Erkenntnisse gewinnen und Umsetzungsideen für eine sektorenübergreifende wohnortnahe Versorgung in Niedersachsen entwickeln im Sinne der Patientinnen und Patienten.


Für Niedersachsen wünsche ich mir konkret, dass die Vorschläge der Enquetekommission des niedersächsischen Landtages umgesetzt werden. Es sollte eine Expertenrunde geben, die vom Ministerium moderiert wird und konkrete Umsetzungsschritte gemeinsam mit den Kommunen in den Gesundheitsregionen unter Beteiligung aller Sektoren festlegt und ein landesweites Gremium in Niedersachsen geschaffen wird, dass den Rahmen mit z. B. einem konkreten Versorgungsstufenkonzept im stationären Bereich dafür gibt.

Das Interview wurde am 23.02.2021 geführt.

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