Interview mit Helge Engelke: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

Interview mit Helge Engelke: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

“Veränderungen in der Krankenhausversorgung müssen zielgerichtet und planvoll erfolgen.”

Helge Engelke

Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.

Heute spricht Kerstin Zuege (Novo Nordisk Pharma GmbH) mit Helge Engelke über das Thema “Klinikversorgung nach Corona – Wie geht es weiter?”

Helge Engelke ist seit April 2014 Verbandsdirektor der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft (NKG), nachdem er seit 2000 die Funktion des stellvertretenden Geschäftsführers innehatte. Vorher war der studierte Wirtschaftswissenschaftler bei der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) mehrere Jahre für den Bereich Krankenhausfinanzierung und -planung zuständig und hat dort die Einführung der damaligen Fallpauschalen und Sonderentgelte durch die BPflV 1995 begleitet. Sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene wirkt er in zahlreichen Gremien der Selbstverwaltung (Vorstand/Präsidium der DKG/G-BA/verschiedene Schiedsgremien) mit. Bis März 2021 war er als benannter Experte in der Enquetekommission des niedersächsischen Landtags „Sicherstellung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Niedersachsen – für eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische Versorgung“ aktiv.

Welche Strukturen haben sich in der Klinikversorgung durch Corona aus Ihrer Sicht geändert und werden sich aus Ihrer Sicht noch ändern?

Helge Engelke:

Die Krankenhäuser haben zur Bewältigung der Corona-Pandemie enorme Anstrengungen unternommen, um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems aufrecht zu erhalten und weitere Kapazitäten zur Behandlung von intensivpflichtigen COVID-19-Patienten zu schaffen. Seitens der Krankenhäuser wurden großflächige räumliche Umstrukturierungen vorgenommen. Ursächlich dafür sind insbesondere die notwendigen zusätzlichen Hygieneanforderungen zum Infektionsschutz, die unter anderem eine getrennte Versorgung von COVID-19-Patientinnen und -Patienten und die von Nicht-COVID-19-Patientinnen und -Patienten erforderlich werden ließ. Eine Rückkehr zum Krankenhausbetrieb wie vor der Pandemie wird es bis auf weiteres nicht geben können.

In der Pandemie ist deutlich geworden, dass regionale Absprachen zur Versorgung im Gesundheitswesen und insbesondere unter den stationären Leistungserbringern ein wichtiger Bestandteil des erfolgreichen Krisenmanagements waren. Dezentrale Strukturen sind der Schlüssel zur Bewältigung von derartigen Krisen und zur Gewährleistung flächendeckender Versorgung. Die zuweilen geforderte Schaffung großer Zentren zur alleinigen Versorgung von COVID-19-Patienten ist keinesfalls eine Lösung, da diese bei einer großen Anzahl an Erkrankten ebenfalls nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen und die Praxis zeigt, dass eine dafür zwingend notwendige Patientensteuerung nur begrenzt möglich ist. Die Verteilung der Last auf viele Schultern war das Erfolgsrezept des vergangenen Jahres.

Viele Krankenhäuser haben aktiv an der Versorgung von COVID-19-Patientinnen und -Patienten teilgenommen. Kleinere Krankenhäuser und ihre Beschäftigten haben dabei ebenso unverzichtbare Arbeit geleistet, wie große Kliniken. Oft haben sie nicht nur direkt COVID-19-Kranke behandelt und die wohnortnahe Versorgung gesichert, sondern anderen Krankenhäusern mit ihren Kapazitäten den Rücken freigehalten. Eine Festlegung auf COVID-19-Krankenhäuser und Nicht-COVID-19-Krankenhäuser hat aus guten Gründen nicht stattgefunden, da sich im Pandemieverlauf das Patientenaufkommen nicht eingrenzen lässt.

Eine wichtige Lehre ist daher, dass dezentrale Strukturen bei der Krisenbewältigung und zur Gewährleistung flächendeckender Versorgung essentiell sind, da auf diese Weise das Risiko eines Zusammenbruchs der Krankenhausversorgung verringert werden kann.


Wird sich die Krankenhausanzahl in Niedersachsen verändern?

Helge Engelke:

Der schrittweise Strukturwandel der Krankenhauslandschaft ist in Niedersachsen längst im Gange. Dabei wägt das Land Niedersachsen als Träger der Krankenhausplanung immer zwischen einer stärkeren Zentralisierung und Spezialisierung einerseits und der Aufrechterhaltung der flächendeckenden Versorgung andererseits ab.

In den vergangenen 15 Jahren sind in diesem Prozess pro Jahr zwei bis drei Krankenhäuser geschlossen und oft zu größeren Einheiten zusammengefasst worden. Es liegen zahlreiche Anträge von Krankenhäusern vor, die im Rahmen von Strukturanpassungen weitere Konzentrationen an neuen Standorten vorsehen. Allerdings klafft aktuell eine Lücke von 1 Mrd. Euro zwischen den als notwendig anerkannten Investitionen und den über den Strukturfonds bereitstehenden Mitteln.

Krankenhäuser gehen die sinnvollen und notwendigen Strukturveränderungen aktiv an und machen Vorschläge zur Optimierung der Versorgung. Veränderungen in der Krankenhausversorgung müssen zielgerichtet und planvoll erfolgen. Ein durch Mittelknappheit erzwungener kalter Strukturwandel durch die Hintertür verschlechtert die Situation vor Ort und insgesamt im Land.

Wie ist die Versorgung derzeit organisiert und wie sieht sie zukünftig aus?

Helge Engelke:

Niedersachsen ist ein Flächenland. Die Versorgung durch Krankenhäuser muss daher sowohl Aspekten der Erreichbarkeit als auch einer Konzentration auf spezielle Leistungen Rechnung tragen. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass eine flächendeckende Versorgung einen wesentlichen Aspekt der Versorgungsqualität darstellt. Es wurde zu Recht auf ein flächendeckendes wohnortnahes Versorgungsangebot gesetzt. Durch eine Verteilung der Versorgung auf mehrere Schultern (Versorgungsstufen und Trägerschaft) gelang eine Risikostreuung und eine Robustheit der Versorgung. Das beweist, dass eine gute Krankenhausstruktur durch Trägervielfalt und Krankenhäuser verschiedener Größenklassen geprägt wird. Künftig soll die gestufte Versorgungsstruktur in Niedersachsen geschärft und weiterentwickelt werden. Angestrebt hierbei wird eine abgestimmte Versorgungsplanung von Krankenhäusern und regionalen Versorgungszentren durch den Krankenhausplanungsausschuss unter Berücksichtigung der ambulanten Bedarfsplanung.


Wird sich durch Corona die Kommunikation zwischen der stationären und ambulanten Versorgung bzw. zwischen den Gesundheitsämtern und der Meldestelle (RKI) ändern?

Helge Engelke:

Mit dem System IVENA, welches maßgeblich in Niedersachsen entwickelt und flächendeckend eingeführt wurde, war es von Beginn der Pandemie an möglich, alle wichtigen Informationen bezüglich der Krankenhausversorgung systematisch erheben und verarbeiten zu können. Parallelerhebungen über das DIVI haben eher zu Doppelaufwand und Abstimmungsproblemen geführt. Ob und wie hier weitere Informationskanäle und Erhebungsinstrumente notwendig und sinnvoll sind, wird sich erst noch zeigen. Datenerhebung darf jedenfalls nicht zum Selbstzweck werden.


Wie hat sich die Digitalisierung entwickelt und wird sie sich zukünftig weiter etablieren?

Helge Engelke:

Die Digitalisierung bietet für Krankenhäuser und Patienten den Vorteil, dass die Kommunikation und viele Abläufe beschleunigt, vereinfacht und besser organisiert werden können. Die Digitalisierung ermöglicht so mehr Zeit für Zuwendung. Auch mit niedergelassenen Haus- und Fachärzten, Therapeuten und anderen Krankenhäusern können Informationen leichter ausgetauscht werden. Patienten profitieren davon, dass auf diese Weise zum Beispiel Doppeluntersuchungen vermieden werden. Eine weitere große Chance für ein Flächenland wie Niedersachsen ist die Telemedizin, die das Versorgungsangebot verbessern kann.

Die digitale Erfassung von Grund- und Abrechnungsdaten der Patienten im sogenannten Krankenhausinformationssystem ist mittlerweile in allen Krankenhäusern Standard und verbindlich vorgeschrieben. Immer mehr Krankenhäuser führen ergänzend digitale Patientenakten ein, die sämtliche Behandlungsdaten enthalten. Dadurch werden auch die Beschäftigten entlastet. Medizinische Geräte sind ebenfalls zunehmend miteinander vernetzt und Untersuchungsergebnisse wie Laborbefunde oder Röntgenbilder werden digital zur Verfügung gestellt. Gesundheitsdaten gehören jedoch zu den sensibelsten Daten überhaupt. Jedes Krankenhaus muss daher größtmöglichen Schutz für seine Daten und das IT-System vor Manipulation und Datenraub gewährleisten.

Zusätzliche Ressourcen für die Digitalisierung werden bisher allerdings weder in der regulären Investitionsförderung des Landes Niedersachsen noch in den Fallpauschalen, mit denen die Krankenhäuser von den Krankenkassen vergütet werden, berücksichtigt. Dringend notwendige Mittel für IT-Systeme und IT-Sicherheit müssen daher derzeit durch Einsparungen aus dem laufenden Betrieb aufgebracht werden. Der Bedarf zusätzlicher Mittel für Digitalisierung und IT-Sicherheit im Krankenhaus ist von der Politik noch nicht ausreichend anerkannt. Hier herrscht ein erheblicher Nachholbedarf.


Welchen Einfluss hatte bzw. wird Corona auf die Finanzierung der Kliniken haben?

Helge Engelke:

Die Corona-Pandemie hat die Schwächen des derzeitigen Finanzierungssystems sehr deutlich hervortreten lassen. Die aufwandsorientierte Pauschalvergütung der Behandlung kann die Kosten der Kliniken nicht decken. Eine Reform des Finanzierungssystems für Krankenhäuser ist unumgänglich. Entscheidend wird es sein, die Vorhalte- und Reservekosten in der Finanzierung in Zukunft in ausreichendem Maße zu berücksichtigen. Die Daseinsvorsorge muss jederzeit sichergestellt sein – insbesondere in Krisenzeiten.

Durch die umfassende Absage und Verschiebung von nicht dringend medizinisch notwendigen Behandlungen infolge der Pandemie standen und stehen die Krankenhäuser vor erheblichen finanziellen Problemen. Insgesamt sind die Fallzahlen im Januar 2021 im Vergleich zu Januar 2020 bundesweit um rund 20 % zurückgegangen, wodurch die Einnahmen der Kliniken in erheblichem Umfang weggebrochen, die Kosten aber geblieben oder sogar angestiegen sind. Weiterhin ist aufgrund der zusätzlichen Hygieneanforderungen mit erhöhten Corona-bedingten Betriebskosten zu rechnen.

In mehr als 70 % der Krankenhäuser hat sich die wirtschaftliche Situation im Vergleich zum Vorjahr verschlechtert. Ob der COVID-Rettungsschirm die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für die Kliniken ausreichend auffangen kann, wird sich erst Ende 2021 zeigen. Fest steht: Die Krise ist noch nicht vorbei. Die Krankenhäuser stehen weiterhin vor der Herausforderung, die Pandemiefolgen bewältigen zu müssen. Auch künftig ist mit durch Corona verursachten Defiziten zu rechnen.

Als Konsequenz aus der Pandemie muss die Flexibilität des Vergütungssystems dringend erhöht werden. Starre Vergütungsregeln anhand der Inanspruchnahme, wie es das DRG-System bisher vorsieht, verursachen bei außergewöhnlichen Belegungsänderungen wie Leerstand oder massiver Überbelegung erhebliche Verluste. Künftig sind intelligentere Lösungen notwendig.

Losgelöst von der Pandemie sind die Krankenhäuser in Niedersachsen aufgrund der ungenügenden Investitionsfinanzierung seitens des Landes gezwungen, immer höhere Einsparungen vorzunehmen. Doch die Einspargrenzen sind vielfach bereits erreicht. Anhaltende Verluste führen dazu, dass Krankenhäuser ihren Betrieb einstellen müssen. Denn kein Träger, ob öffentlich, freigemeinnützig oder privat, kann dauerhaft Defizite der Krankenhäuser auffangen.



Welche Wünsche hätten Sie an die Politik?

Helge Engelke:

Wichtig ist aus meiner Sicht ein Perspektivwechsel: Die Ausgaben für Krankenhäuser sind keine „unnötigen“ oder „ungerechtfertigten“ Kosten. Sie ermöglichen vielmehr erst die qualitativ hochwertige medizinische Versorgung der Menschen in Niedersachsen. Auch eine Abkehr von der immer stärker werdenden Bürokratie und Misstrauenskultur ist zwingend notwendig. Neben der Zeitverschwendung des ohnehin schon stark belasteten Personals signalisieren die immer kleinteiliger werdenden Rechtfertigungs-Dokumentationen eine Haltung gegenüber den Menschen, die sich tagtäglich für Patientinnen und Patienten einsetzen, die nicht mehr akzeptabel ist. Die Politik und alle beteiligten Akteure sollten sich gemeinsam zur ihrer Verantwortung für die Krankenhäuser als unverzichtbarer Bestandteil der Daseinsvorsorge, als elementarer Standortfaktor der regionalen Wirtschaft sowie als Keimzelle der Gesundheitswirtschaft Niedersachsens bekennen.

Die Krankenhäuser in Niedersachsen werden sich auch in Zukunft einer gut erreichbaren, flächendeckenden medizinischen Versorgung in hoher Qualität verpflichtet fühlen. Damit dies gelingen kann, sind jedoch faire Rahmenbedingungen notwendig. Die in der Pandemie gewachsene Wertschätzung für die Mitarbeitenden im Krankenhaus muss nachhaltig werden. Dafür müssen unter anderem die Arbeitsbedingungen in den Kliniken verbessert und die Nachwuchsgewinnung gefördert werden.


Das Interview wurde am 09.06.2021 geführt.

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