Interview mit Michael Wirtz: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

Interview mit Michael Wirtz: “Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“

“Wichtig ist, dass der Patient weiß: Du hast Adipositas und man kann etwas dagegen tun.”

Michael Wirtz

Die Interview-Reihe „Die Qualitätsinitiative fragt nach – Gesundheitsversorgung im Fokus“ ist eine regelmäßig erscheinende Rubrik, die Hintergrundinformationen zu aktuellen regionalen und überregionalen gesundheits- und arzneimittelpolitischen Themen liefert. Die Themen werden aus der Sicht verschiedener Entscheider*innen im niedersächsischen Gesundheitswesen beleuchtet.

Heute sprechen Kerstin Zuege (Novo Nordisk Pharma GmbH), Dr. rer. nat. Monika Övermöhle (UCB Pharma GmbH) und Dr. Şevket Turgut M.A. (AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG) mit Michael Wirtz über das Thema “Versorgungslücke in der Adipositas-Versorgung?”

Michael Wirtz, Jahrgang 1971, wohnhaft in Winsen / Luhe, ist seit Gründung der AdipositasHilfe Deutschland e.V. in 2013 als Vorstandsmitglied aktiv. In der Selbsthilfe ist er bereits 20 Jahre aktiv. Seit 2021 ist er Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss. Er ist weiterhin in zahlreichen indikationsübergreifenden Projekten und Initiativen aktiv und beschäftigt sich intensiv mit gesundheitspolitischen Themen. Neben diesem ehrenamtlichen Engagement geht er noch einer Vollzeitbeschäftigung als Bau-/Projektleiter nach.

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Behandlung mit Adipositas gemacht?

Michael Wirtz:

Prinzipiell findet die Behandlung der Adipositas im niedergelassenen Bereich so gut wie gar nicht statt. Damit meine ich die Grundversorgung im Bereich der Hausärzte. Das hängt damit zusammen, dass es dafür keine Vergütung gibt. Es gibt im Moment keine Leistung im Leistungskatalog, die in irgendeiner Form auf das Thema Adipositas gemünzt ist. Alles andere läuft in der Regel über die Reha-Verordnung nach § 43 SGB V, der Ernährungs-Therapie. Dieses Wissen ist bei den Allgemeinmedizinern vielleicht vorhanden, bei vielen wird es aber praktisch nicht angewendet. Und das ist das Problem. Und wenn wir ein Stück weiter gehen, dann haben wir natürlich bei der Behandlung von Menschen mit Adipositas große Probleme, zum Beispiel im gynäkologischen Bereich oder bei Zahnärzten. Dahingehend, dass die Behandlungsstühle oft von der Tragfähigkeit nicht ausreichend sind. Wir haben Probleme überall da, wo Behandlungsstühle und Liegen beispielsweise ein Gewicht von mehr als 130 Kilogramm tragen müssen, wie in der Chirurgie oder beim MRT, welches in der Regel nur auf 130 Kilogramm zugelassen ist. Viele Menschen mit Adipositas brauchen daher ein offenes MRT. Einige müssen dafür extra einen Antrag bei der Krankenkasse stellen, obwohl sie nachweislich mehr als 130 Kilogramm wiegen.

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Behandlung mit Adipositas gemacht?

Michael Wirtz:

Was wir häufig erleben und immer wieder berichtet bekommen ist, dass Ärzte unabhängig vom Krankheitsbild die Erkrankung auf das Gewicht reduzieren. Häufig kommt die Aussage „Sie müssen erst einmal abnehmen“. Es gibt dann aber keine Hilfestellung, wie man abnehmen kann. Im Umkehrschluss geht man aber in der Medizin häufig hin und behandelt nur das Ergebnis. Wie zum Beispiel beim Diabetes, bei der Hypertonie oder sonstige Indikationen, wo man quasi nur versucht, die aktuellen Symptome zu lindern. Bei Adipositas gibt es keine Leistungen im GKV-Abrechnungssystem, die eine kausale Behandlung honoriert. Lediglich die chirurgische Therapie ist in der Kostenerstattung. Es ist eine Katastrophe: Inzwischen gibt es gute medikamentöse Therapieoptionen für Menschen mit Adipositas, die allerdings aufgrund des „Lifestyle-Paragraphen“ nur eingeschränkt zugänglich sind. Denn Arzneimittel sind nach § 34 SGB V von der Versorgung für Adipositas ausgeschlossen. Dies muss dringend geändert werden. Am Ende muss es für die Adipositas Behandlung, für eine definierte Patientengruppe, eine Ausnahmegenehmigung geben, damit ein Großteil der Betroffenen nicht von einer Therapie ausgeschlossen wird. Denn es gibt neuerdings durchaus gute medikamentöse Therapieoptionen. Trotzdem darf die konservative Therapie mit Lebensstiländerung nicht vergessen werden und darüber hinaus ist für die Adipositas-Diagnose E66 keine psychotherapeutische Begleitung vorgesehen. Dies alles ist meiner Meinung aber sehr wichtig.

Ein anderes Beispiel wäre die Magen-Bypass-Operation. Die Probleme hören für den Patienten durch die Operation und den damit verbundenen Gewichtsverlust ja nicht auf. Die gesamte Lebenssituation ändert sich: der Lebensstil, die Bewegung, die Ernährung, die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung deiner Umwelt. Probleme durch ein verbessertes Selbstbewusstsein mit Partnern und Angehörigen sind z.B. sehr häufig. Die psychische Nachsorge in Zusammenarbeit mit Ehepartner und Familie ist ein wichtiger Baustein, um den Gewichtsverlust durch die Operation bzw. medikamentöse Therapie auch zu erhalten. Doch einen Termin zur psychotherapeutischen Therapie zu bekommen ist verdammt schwierig.

Das Problem könnte man meiner Meinung nach mit Gruppenschulungen angehen. Viele Menschen mit Adipositas wären in einer Gruppenschulung gut untergebracht und bei einigen kann dann in Einzelschulungen auf individuelle Themen eingegangen werden. Die Selbsthilfe kann hier sicherlich auch unterstützen aber ersetzt keine Therapeuten.

Wird Adipositas in Ihren Augen mittlerweile von den Beteiligten im Gesundheitssystem und der Gesellschaft als Krankheit anerkannt?

Michael Wirtz:

Adipositas wird immer noch allgemein stigmatisiert und es ist auch eine Selbststigmatisierung bei den Betroffenen zu finden. Gesellschaftlich ist das Verständnis für Adipositas noch zu gering. Wichtig meiner Meinung nach ist es auch, dass die Ärzte akzeptieren, dass Adipositas eine chronische Erkrankung ist. Bei jüngeren Ärzten sehe ich aber schon eher die Akzeptanz. Die Menschen scheuen sich ihre Ärzte auf das Thema anzusprechen. Wichtig ist, dass der Patient weiß: Du hast Adipositas und man kann etwas dagegen tun. Da könnte z.B. das DMP-Adipositas helfen den richtigen Arzt zu finden und die leidige Diskussion beenden warum Menschen mit Adipositas, genau wie bei anderen chronischen Erkrankungen, therapiert werden müssen und nicht erst dann, wenn sie schwer krank sind.

Die Richtlinien für das Disease Management Programm (DMP) werden wahrscheinlich im November 2023 vom G-BA bekannt gegeben. Wird dieser Schritt eine Trendwende in der Versorgung der Adipositas einläuten?

Michael Wirtz:

Im Prinzip kann man in das DMP nur das reinbringen, was im Leistungskatalog steht oder evaluiert und publiziert ist. Ansonsten könnte man Therapieoptionen oder Versorgungsformen mit reinnehmen und gleichzeitig evaluieren. Ich glaube, das wäre ein großer Schritt für alle gewesen. Ich glaube aber auch, dass der Gesetzgeber mit zweieinhalb Jahren einfach zu wenig Zeit gegeben hat, um ein DMP-Adipositas auszugestalten. In der Arbeitsgruppe arbeiten wir themenbezogenen Patientenvertreter sowie die Fachexperten neben unseren Hauptjobs und – das darf man nicht vergessen – wir sind mehr oder weniger bei null angefangen. Darüber hinaus gibt es viele Befindlichkeiten in diesem Thema. Da haben wir beispielsweise die Zahler, die Panik vor 17 Millionen Erkrankten haben. Wir haben die Leistungserbringer, die haben Panik vor 17 Millionen Patienten. Und wir haben die Patientenvertreter, die endlich eine angemessene Versorgung fordern. Jetzt ist die Frage, wer setzt sich durch? Die Patienten sicherlich nicht, da wir lediglich ein Mitberatungs- und Vorschlagsrecht im G-BA besitzen. Am Ende wird im schlimmsten Fall ein Minimalkonsens herauskommen und sicher nicht der große Wurf, außer, dass es endlich realistische Zahlen und eine anständige Diagnostik gibt. Auch wird es neue Erkenntnisse zur Erkrankung und Komorbiditäten geben, die mit aufgenommen wurden. Denn momentan ist die Dunkelziffer von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen Komorbiditäten sehr hoch. Menschen mit Adipositas vermeiden es nämlich zum Arzt zu gehen. Hier wird nach erfasster Kodierung sicherlich schon was auf uns zukommen. Der Gesetzgeber hat als Anforderung gestellt, dass Menschen aufgefangen werden sollen, die in keinem Behandlungsprogramm aktiv eingeschrieben sind. Die Patientenvertretung im G-BA steht auf dem Standpunkt Patienten mit einem BMI > 30 ohne Begleiterkrankungen ins DMP einzuschließen, die anderen Bänke im G-BA sehen dies aktuell anders. Schulungsprogramme, Qualifizierung, Umsetzung und Vergütung sind weitere kontroverse Punkte. Wir werden sehen, was am Ende dabei rauskommt. Und wenn die Richtlinien des G-BA in Kraft getreten sind, hapert es dann an der Umsetzung von den regionalen KVen und Krankenkassen. Immer wieder wird die GKV-Finanzierung vorgeschoben, um nicht zu verhandeln, das ärgert mich schon. Meiner Meinung nach müsste mehr politische Weichen diesbezüglich gestellt werden und von staatlicher Seite müsste mehr Geld ins System fließen.

Sind Ihnen bereits Versorgungsstrukturen dazu bekannt und wenn ja engagieren Sie sich in diesen Strukturen/Projekten schon?

Michael Wirtz:

Neben der Arbeit als Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland e.V. habe ich beispielsweise einige Selbsthilfegruppen mit aufgebaut. Außerdem bin ich im „Think Tank Herz Kreislauf“ und bei der Herz-Hirn-Allianz aktiv, weil wir am Ende immer wieder beim Thema Adipositas herauskommen. Böse gesagt nutze ich andere Krankheitsbilder, um mein Thema mit einzubringen. Im Moment lerne ich auch viel über Diabetes, da ich jetzt Vorsitzender vom Diabetiker Bund Hamburg bin. Dort haben für das nächste Jahr keinen Diabetiker-Tag mehr, sondern einen Diapositas-Tag. Es hört nicht beim Übergewicht auf: Komorbiditäten müssen auch in den Blick genommen werden. Dazu gehören neben dem metabolischen Syndrom, die nicht alkoholische Fettleber, auch Gelenkprobleme, Nährstoffmangel als Folge der Magenoperationen, Osteoporose, Probleme mit den Zähnen und dem Kieferknochen. Wir haben gerade bei den Frauen des PCS-Syndrom sehr häufig, dazu kommen noch Asthma/COPD und die ganzen Hauterkrankungen, wie z.B. Akne inversa. Und dann später sind viele Krebserkrankungen die schweren Folgen durch das Übergewicht und durch die Adipositas, wahrscheinlich auch bedingt durch die anderen Komorbiditäten. Auch im DMP sind die Komorbiditäten ganz klar als Thema enthalten, als Erläuterung, warum es sinnvoll ist sein Gewicht zu reduzieren.

Wo Sie gerade das Thema Programme ansprechen. Was halten Sie von den digitalen Gesundheitsanwendungen, die jetzt in aller Munde ist?

Michael Wirtz:

Ich halte die digitalen Gesundheitsanwendungen persönlich für eine gute Sache. Ich finde gut, dass sie eine weitere Therapieoption bieten. Sie sind aber nicht für jeden geeignet, aber man ist unabhängig davon, welche Versorgungsstrukturen man vor Ort hat. Laut Studien ist der Erfolg dieser Therapien durchaus mit anderen Therapien vergleichbar. Es ist ein guter Anfang und eine Basis-Schulung erhalten die Patienten dadurch auch. Ich bin eher ein Freund von hybriden Anwendungen. Eine digital gestützte konservative Therapie vor Ort wäre aus meiner Meinung ein idealer Weg. Ja, ich glaube, da kommen wir auch hin, spätestens beim Start des DMP wird es die ersten hybriden Anwendungen geben, in dem dann auch die Schnittstelle zum Arzt da ist, damit alle Behandler, wer auch immer das ist, auf die Daten mit zugreifen können und sehen, wie der Verlauf ist. Das digitale ist auf dem Vormarsch, aber das ist nicht das Allheilmittel. Aber die Kombi macht’s eben. Wir haben es bei Adipositas mit einer multifaktoriellen Erkrankung zu tun, dazu brauchen wir natürlich auch ein breites Behandlungsspektrum.

Wie sehen Sie die politischen Rahmenbedingungen bei der Behandlung und Versorgung von adipösen Menschen und welche Wünsche hätten Sie an die Politik?

Michael Wirtz:

Politisch würde ich in erster Linie dafür appellieren, dass wir die Zugänge zu allen Therapieoptionen erleichtern, vor allen Dingen zur medikamentösen Therapie. Ansonsten würde ich mir gesellschaftlich einfach ein bisschen mehr Verständnis für das Thema Adipositas wünschen. Mein größter Wunsch wären regionale Versorgungs-Netzwerke in Kooperation mit Krankenkassen. Und zwar in der Form, dass es regionale Verbünde mit Koordinierungsstellen gibt, die für Adipositas-Patienten sowie für Behandler:innen als Lotsen dienen. Regionale Zusammenarbeit und Austausch in Versorgungsnetzwerken wären meiner Meinung nach der richtige Weg, um das Thema nach oben zu bringen. Ein Beispiel für so ein Versorgungsnetzwerk ist das Adipositas Netzwerk in der Region Hannover. Solche Strukturen werden weiterwachsen, weil ich glaube, dass die Niedergelassenen Angst haben, die Last allein nicht tragen zu können. Aber das müssen sie nicht und das verlangt auch keiner. Am Ende müssen sich alle nur einig sein, wie sie die schlechte Vergütung untereinander austeilen.

Das Interview wurde am 25.07.2023 geführt.

>>Gelangen Sie hier zu der Übersicht der Rubrik: Die Qualitätsinitiative fragt nach<<